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BGH setzt neue Akzente bei der Zahlungsunfähigkeit

Der Bundesgerichtshof hat am 01.08.2022 ein Urteil des II. Senats vom 28.06.2022, II ZR 112/21 veröffentlicht, in dem er die Darlegung der Zahlungsunfähigkeit, gestützt auf „mehrere tagesgenaue Liquiditätsstatus in aussagekräftiger Anzahl“, als zulässig erachtet (Rz. 14 des Urteils). Der BGH führt insofern aus, dass Zahlungsunfähigkeit gegeben ist, wenn ausgehend von einem Stichtag an mehreren Tagen im Prognosezeitraum eine Liquiditätslücke mit einer erheblichen Unterdeckung ausgewiesen wird, die nicht in relevanter Weise geschlossen werden kann.

Damit weicht der II. Senat von der gängigen Rechtsprechung ab, die bei Feststellung einer relevanten Unterdeckung im zweiten Prüfungsschritt eine „Liquiditätsbilanz“ fordert, d. h. die Aufsummierung der weiteren Einzahlungen und weiteren fälligen Verbindlichkeiten der nächsten drei Wochen und anschließend eine Quotierung der sog. Aktiva I und Aktiva II zu den sog. Passiva I und Passiva II.

Mit dieser Rechtsprechung zeichnen sich Übereinstimmungen des BGH mit den Empfehlungen des VID zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit ab. Der VID hat diese Empfehlungen am 22.06.2022 veröffentlicht. Darin fordert er die Ermittlung durch mehrere stichtagsbezogene Status an drei aufeinanderfolgenden Stichtagen und die Abkehr vom nicht zur Buchhaltung korrelierenden 3-Wochen-Zeitraum, vom Volumeneffekt und von der prozentualen Ermittlung der Unterdeckung.

Durch dieses Urteil wird die Stichtagsbetrachtung und die Ermittlung anhand von „Finanzstatus“ (d. h. der Vergleich jeweils der liquiden Mittel zu den fälligen Verbindlichkeiten) als zulässig angesehen, die Aufstellung der sog. „Liquiditätsbilanz“ ist nicht erforderlich. Auch wenn der BGH den Prognosezeitraum nicht ausdrücklich definiert und an den Stichtagen – im Unterschied zum VID – eine erhebliche Unterdeckung fordert (was durch die Nichtzahlung von Verbindlichkeiten manipulierbar ist), begrüßt der VID die neue Akzentuierung. Damit wird die Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit insbesondere für Geschäftsleiter eines Unternehmens erheblich erleichtert.

Die Zahlungsunfähigkeit ist auch Ausgangspunkt für die Ermittlung der Überschuldung (Feststellung einer Fortführungsprognose) und der drohenden Zahlungsunfähigkeit. Mit dem Urteil wird mehr Transparenz bei der Ermittlung der Insolvenzgründe geschaffen, was zu einer rechtzeitigeren Feststellung und damit zu einer früheren Einleitung einer Sanierung – ohne oder mit einem Insolvenzverfahren – führen kann. Dies wird eine Sanierungskultur maßgeblich fördern.

 

VID-Empfehlungen zum Insolvenzrecht – Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit

Der Verband der Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID) setzt sich für Qualität und Standards in der Insolvenzverwaltung ein. Dazu hat er insbesondere die „Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenz- und Eigenverwaltung“ entwickelt. Darüber hinaus arbeitet der VID durch seine Stellungnahmen an der ständigen Fortentwicklung des Insolvenzrechts und positioniert sich gegenüber Politik, Gerichten, Wissenschaft und Verbänden. Vor diesem Hintergrund hat sich der VID auch das Ziel gesetzt, die Grundlagen des Insolvenzrechts zu hinterfragen und zu einzelnen Themen Standards und Grundsätze zu entwickeln, die zu einer kontinuierlichen Verbesserung des Wirtschafts- und Insolvenzrechts beitragen sollen. Der Ausschuss Betriebswirtschaft des VID hat daher Empfehlungen zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit geschaffen, die die Diskussion über diesen zentralen Begriff mit der Wissenschaft und Praxis anstoßen und zu einer Konturierung dieses Insolvenzeröffnungsgrunds beitragen sollen. Diese Diskussion bedingt eine kritische Auseinandersetzung mit der derzeitigen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Die vorgelegten Empfehlungen weichen von dieser Rechtsprechung ab und sollten deshalb im Einzelfall nicht ohne deren Berücksichtigung zu rechtlichen Beurteilungen herangezogen werden.