VID-Empfehlungen zum Insolvenzrecht – Ermittlung der Überschuldung

 

Der Verband der Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID) setzt sich für Qualität und Standards in der Insolvenzverwaltung ein. Dazu hat er insbesondere die „Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenz- und Eigenverwaltung“ entwickelt. Darüber hinaus arbeitet der VID durch seine Stellungnahmen an der ständigen Fortentwicklung des Insolvenzrechts und positioniert sich gegenüber Politik, Gerichten, Wissenschaft und Verbänden. Vor diesem Hintergrund hat sich der VID auch das Ziel gesetzt, die Grundlagen des Insolvenzrechts zu hinterfragen und zu einzelnen Themen Standards und Grundsätze zu entwickeln, die zu einer kontinuierlichen Verbesserung des Wirtschafts- und Insolvenzrechts beitragen sollen. Der Ausschuss Betriebswirtschaft des VID hat daher Empfehlungen zur Ermittlung der Überschuldung erarbeitet, die die Diskussion über diesen zentralen Begriff mit der Wissenschaft und Praxis anstoßen und zu einer Konturierung dieses Insolvenzeröffnungsgrunds beitragen sollen. Nun stellt der VID seine Empfehlungen zur Ermittlung der Überschuldung vor.

 

 

– Empfehlungen zur Ermittlung der Überschuldung –

Ein Beitrag zur Fortentwicklung der Insolvenz- und Sanierungskultur

 

I. Einleitung

Der in § 19 InsO geregelte Insolvenztatbestand der Überschuldung ist neben der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit ein zusätzlicher – und insbesondere verpflichtender – Insolvenzantragsgrund für Rechtsträger, deren Haftung für ihre Verbindlichkeiten kraft Rechtsform oder mangels persönlicher Haftung ihrer Beteiligten beschränkt ist.

 

1. Tatbestand

Insolvenzrechtliche Überschuldung liegt nach dem Wortlaut von § 19 Abs. 2 InsO vor,

wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt (rechnerische Überschuldung),

 es sei denn, die Fortführung des Unternehmens in den nächsten zwölf Monaten (im Zeitraum vom 09.11.2022 bis zum 31.12.2023: vier Monaten, § 4 Abs. 2 Nr. 2 SanInsKG) ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich (Fortführungsprognose).

Der seit Einführung der Insolvenzordnung im Jahr 1999 krisenbedingt geänderte bzw. angepasste Begriff der Überschuldung ist nunmehr seit dem Jahr 2008 zweistufig modifiziert. Im Interesse des verbesserten Gläubigerschutzes hatte der Gesetzgeber bis dahin bestimmt, dass eine rechnerische Überschuldung bei der Gegenüberstellung der Aktiva und Passiva zu einer Antragspflicht führt. Die Fortführungsprognose diente lediglich als Maßstab für die Bewertung des Vermögens zu Fortführungs- oder Liquidationsgesichtspunkten. Im Zuge der Finanzmarktkrise wurde der bereits vor Einführung der Insolvenzordnung verwendete modifiziert zweistufige Überschuldungsbegriff – zunächst befristet, später entfristet – wiedereingeführt. Hierdurch sollten Unternehmen, deren Finanzkraft mittelfristig zur Fortführung ausreicht, trotz durch die Finanzmarktkrise verursachte Wertverluste des Vermögens eine Überlebenschance erhalten. Seither führt eine rechnerische Überschuldung dann nicht zu Insolvenzreife und damit zur Antragspflicht, wenn für das betroffene Rechtssubjekt eine positive Fortführungsprognose besteht, mithin mittelfristig eine ausreichende Finanzkraft zur Fortführung des schuldnerischen Unternehmens vorhanden ist. Der in § 19 Abs. 2 InsO bestimmte Prognosezeitraum wurde mit Einführung des SanInsFoG zum 01.01.2021 auf zwölf Monate festgelegt. In der Zeit vom 09.11.2022 bis zum 31.12.2023 belief sich der Prognosezeitraum seit Inkrafttreten des SanInsKG vorübergehend auf vier Monate.

 

2. Definition und Abgrenzung der im Zusammenhang stehenden Begriffe

Im Zusammenhang mit dem insolvenzrechtlichen Tatbestand der Überschuldung werden von Rechtsprechung, Literatur und Praxis eine Vielzahl verschiedener Begriffe verwendet: Begrifflichkeiten werden teilweise synonym, teilweise völlig unterschiedlich, jedenfalls aber recht uneinheitlich gebraucht. Auftauchende Begriffe sind z. B. handelsbilanzielle, bilanzielle, handelsrechtliche, buchhalterische, rechnerische, rechtliche und insolvenzrechtliche Überschuldung. Weiterhin werden in diesem Zusammenhang die Begriffe Bilanz, Überschuldungsbilanz, Überschuldungsstatus, Unterbilanz, Unterdeckung, Vermögensunterdeckung und Vermögensstatus sowie Fortbestehens- oder Fortführungsprognose genutzt.

Der VID empfiehlt folgende Verwendung der Begriffe:

  • die Begriffe handelsbilanzielle, bilanzielle, handelsrechtliche und buchhalterische Überschuldung sollten synonym verwendet werden; die Begriffe juristische, rechtliche und insolvenzrechtliche Überschuldung sollten für den Gesamttatbestand des § 19 InsO verwendet werden, d. h. die zweistufige Prüfung im gesetzlichen Sinne bezeichnen. Der Begriff „rechnerische Überschuldung“ sollte – entsprechend der Verwendung durch den IX. Zivilsenat[1] – für den ersten im Gesetz genannten Tatbestand, also den Vergleich von Vermögen und Verbindlichkeiten, verwendet werden.
  • Für das prognostische Element des Tatbestandes sollte – anders als im IDW S11[2] – der Begriff der Fortführungsprognose verwendet werden. In der insolvenzrechtlichen Literatur[3] wird im Zusammenhang mit § 19 InsO überwiegend der Begriff „Fortführungsprognose“ verwendet, das Gesetz selbst spricht in § 19 InsO von der „Fortführung des Unternehmens“ und auch der Gesetzgeber verwendete in der Begründung des SanInsFoG zu § 19 InsO[4] den Begriff „Fortführungsprognose“.
  • Liquidationswert/Zerschlagungswert: Liquidationswert beschreibt den tatsächlichen Marktwert im Falle eines geordneten Liquidationsverkaufs. Oft werden die Begriffe der Liquidations- und Zerschlagungswerte synonym verwendet, bezeichnen aber nicht notwendigerweise dasselbe, bezogen auf eine Unternehmensbeendigung.[5] Sinnvollerweise ist eine Unterscheidung dahingehend vorzunehmen, dass der Zerschlagungswert im Vergleich zum Liquidationswert eine Verwertung unter hohem Zeitdruck bezeichnet.[6] Wirtschaftsgüter, die auch im Fall der Abwicklung verwertbar wären oder zum Beispiel im Wege der übertragenden Sanierung und Übertragung des gesamten Betriebsvermögens auf einen neuen Rechtsträger verwertet werden können, werden entweder nach ihrem Marktwert oder nach dem Wert, den ein Dritter im Wege der übertragenden Sanierung bereit ist zu zahlen, bewertet.[7]

Wenn im Folgenden von „Überschuldung“ die Rede ist, ist damit die insolvenzrechtliche Überschuldung gemeint. Sofern die bilanzielle Überschuldung gemeint ist, wird das jeweils entsprechend benannt.

 

3. Abschaffung/Modifizierung des Überschuldungstatbestandes?

Aktuell mehren sich wieder Stimmen, die für eine Abschaffung der Überschuldung als Pflichtantragsgrund eintreten.[8] Als Argumente für eine Abschaffung werden u. a. eine angeblich mangelnde praktische Relevanz der Überschuldung als Insolvenzeröffnungsgrund sowie die der Überschuldungsprüfung inhärenten Unsicherheiten und die damit verbundene Haftungsgefahr genannt. Es gibt aber auch Stimmen, die sich für eine Ausweitung des Überschuldungstatbestandes auf rechtsfähige Personengesellschaften[9] oder eine Neugestaltung der Insolvenzantragsgründe insbesondere des Überschuldungstatbestandes aussprechen.[10]

Der VID rät von einer Abschaffung der Überschuldung als Pflichtantragsgrund ab. Im Hinblick auf das haftungsbeschränkte Vermögen juristischer Personen und Personengesellschaften ohne natürliche Person als Vollhafter ist die Überschuldung ein wesentliches Präventiv für die Gläubiger. Im Interesse des Gläubigerschutzes soll ein Mindestmaß an Haftungsmasse gesichert und zudem erreicht werden, dass noch vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit ein Insolvenzantrag gestellt wird. Wenn immer erst bei schon eingetretener Zahlungsunfähigkeit ein Insolvenzverfahren eingeleitet wird und nicht schon dann, wenn Zahlungsunfähigkeit im maßgeblichen Prognosezeitraum erkennbar ist (bei gleichzeitiger Vermögensunterdeckung), geht der Gläubigerschutz fehl. Offenkundig ist das bei einer zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft fälligen hohen Verbindlichkeit (z. B einem zu einem bestimmten Zeitpunkt fälligen Schuldschein- oder anderem Darlehen): Könnte bis zu diesem Zeitpunkt weitergewirtschaftet und das gesamte oder erhebliche Teile des verwertbaren Vermögens für die Begleichung der jetzt schon fällig werdenden Verbindlichkeiten verbraucht werden, wäre Überschuldung kein Pflichtantragsgrund mehr.

Den von mancher Seite kritisierten Unwägbarkeiten bei der Überschuldungsprüfung ist dadurch zu begegnen, dass bei der retrograden Überprüfung der Fortführungsprognose der richtige Maßstab angesetzt wird. Rückschaufehler müssen vermieden werden, die retrograde Überprüfung muss aus ex-ante-Sicht eines gewissenhaften Geschäftsleiters erfolgen und dessen aus ex-ante-sicht vertretbaren Prognoseentscheidungen dürfen nicht aufgrund nachträglicher Erkenntnisse (sog. „hindsight bias“) revidiert werden.

 

II. Bedeutung des Insolvenzgrunds der Überschuldung für die Praxis

Der Überschuldungstatbestand dient vorrangig dem präventiven Gläubigerschutz. Deckt das Vermögen des haftungsbeschränkten Unternehmens die Verbindlichkeiten nicht mehr und ist eine Fortführung innerhalb der definierten Zeitschranken nicht überwiegend wahrscheinlich, wird den Organen im Interesse der Gläubigergemeinschaft das Recht aberkannt, das Unternehmen autonom und unverändert fortzuführen.[11] Eine über die definierten Vermögens- und Zeitschranken hinausgehende Weiterführung des Unternehmens ohne Kontrolle durch die Gläubiger in einem geordneten Verfahren ist unzulässig und verbietet sich als gläubigerschädigendes „wrongful trading“.[12] Der Tatbestand der Überschuldung ist damit das notwendige Korrelat zur alleinigen Haftung des Rechtsträgervermögens. Die Überschuldung kann in die Gesamtwürdigung der für einen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz sprechenden Umstände im Rahmen der Insolvenzanfechtung einzubeziehen sein[13], ist aber vor allem Anknüpfungspunkt für die Organhaftung nach § 15b InsO und kann zudem strafrechtliche Konsequenzen nach § 283 f. StGB nach sich ziehen.

Soweit eingewandt wird, der Überschuldungstatbestand habe keine praktische Bedeutung als Insolvenzeröffnungsgrund, weil er keine relevante Steuerungswirkung entfalte[14], geht diese Argumentation nach Ansicht des VID an der Sache vorbei. Denn zum einen sagt der statistisch erfasste Eröffnungsgrund nichts darüber aus, auf welchen Insolvenzgrund der Antrag gestützt wurde und welche Insolvenzgründe tatsächlich (schon) vorlagen; wenn Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist, ist in der Regel der Eröffnungsgrund der Überschuldung schon geraume Zeit vorher eingetreten. Zum anderen wird ein sinnvolles Gebot nicht dadurch obsolet, dass sich ein Teil des Adressatenkreises nicht an dieses Gebot hält. Den erforderlichen Ausgleich für Verletzungen des Gebots bietet die Haftung der Geschäftsleitung für Insolvenzverschleppungsschäden und verbotene Auszahlungen nach Insolvenzreife.

Schließlich ist zu konstatieren, dass dem Eröffnungsgrund der Überschuldung seit der Geltung des SanInsFoG, der dort in § 1StaRUG geregelten Krisenfrüherkennungspflicht und den Eintrittsvoraussetzungen für Restrukturierungssachen sowie der Festlegung der Prognosezeiträume in den §§ 18 und 19 InsO viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.

 

III. Ermittlung

Der Überschuldungstatbestand besteht aus den zwei Tatbestandmerkmalen der rechnerischen Überschuldung und der negativen Fortführungsprognose. So führt die Vermögensunterdeckung zu Liquidationswerten (rechnerische Überschuldung) bei einer negativen Fortführungsprognose zur insolvenzrechtlichen Überschuldung im Sinne der Insolvenzreife. Liegt hingegen eine positive Fortführungsprognose vor, ist unabhängig von einer rechnerischen Überschuldung keine Insolvenzreife gegeben.[15]

Unabhängig davon, dass der Wortlaut des § 19 InsO selbst keine Prüfungsreihenfolge der beiden Tatbestandsmerkmale vorsieht, erfolgt die Überprüfung der Überschuldung nach h.M.[16] in einem zweistufigen Verfahren:

  • Erste Stufe: Fortführungsprognose
  • Zweite Stufe: Rechnerische Überschuldung

Ergibt die Überprüfung auf der ersten Stufe eine positive Fortführungsprognose, ist zumindest nach der aktuellen Gesetzeslage keine Überschuldung und damit Insolvenzantragspflicht gegeben. Dies gilt unabhängig davon, ob gleichzeitig eine rechnerische Überschuldung gegeben ist. Eine Überprüfung auf der zweiten Stufe ist damit grundsätzlich obsolet. Aus diesem Grunde liegt es nahe, zunächst die Fortführungsprognose zu erstellen.

Gleichwohl sollten die nach § 15a InsO zur Antragstellung verpflichteten Personen sowohl aus Gründen ihrer sowohl zivilrechtlichen als auch strafrechtlichen Haftung im Falle einer Fehleinschätzung stets beide Tatbestandsmerkmale und damit Prüfungsstufen im Blick behalten, denn das Vorliegen der Fortführungsprognose birgt insbesondere retrospektiv einige Fallstricke. Prognosen sind naturgemäß von subjektiven Einschätzungen und Annahmen geprägt und regelmäßig alles andere als eindeutig. Es empfiehlt sich daher trotz einer positiven Fortführungsprognose die Prüfung auf der zweiten Stufe fortzusetzen. Ist eine rechnerische Überschuldung nicht gegeben, besteht kein Grund zur Sorge.

 

1. 1. Stufe: Die Fortführungsprognose

a.         Grundlagen

Nach ständiger Rechtsprechung setzt sich die Fortführungsprognose aus der objektiven Lebensfähigkeit des Unternehmens und in subjektiver Hinsicht aus dem Willen zur Fortführung zusammen.[17]

Fortführungswille: Von einem bestehenden Fortführungswillen wird in der Regel auszugehen sein, es sei denn, ein mangelnder Fortführungswillen ergibt sich aus den tatsächlichen Umständen, z. B. aus einem Beschluss über die Einstellung des Geschäftsbetriebes oder aus einem Liquidationsbeschluss. Im Fall eines solchen Liquidationsbeschlusses soll die Fortführungsprognose nach einer Ansicht in der Literatur daran gemessen werden, „ob die gewollte Abwicklung der Gesellschaft mit den verfügbaren Mitteln abgeschlossen werden kann oder nicht“.[18] Reichen die Mittel aber aus, um die Liquidation abzuschließen, dürfte schon keine rechnerische Überschuldung vorliegen, sodass es auf eine Fortführungsprognose gar nicht ankommt. Im Fall eines Liquidationsbeschlusses oder einer Einstellung des Geschäftsbetriebs liegt also nach Auffassung des VID keine positive Fortführungsprognose mehr vor und eine Überschuldung kann nur noch auf Ebene der Ermittlung der rechnerischen Überschuldung im Liquidationsszenario beseitigt werden.

Objektive Lebensfähigkeit: Abgesehen von dem erforderlichen Fortführungswillen ist die Fortführungsprognose nach h. M. eine Zahlungsfähigkeitsprognose.[19] Diese Zahlungsfähigkeitsprognose setzt eine Ertrags- und Liquiditätsplanung sowie ein darauf aufbauendes schlüssiges, realisierbares sowie aussagekräftiges Unternehmenskonzept voraus, aus dem sich ergibt, dass mittelfristig eine ausreichende Finanzkraft zur Fortführung des Unternehmens besteht.[20] Der erforderliche Detaillierungsgrad (Quartal/Monat/Woche) wird vom Ausmaß der Unternehmenskrise und der bereits eingetretenen sowie der erwarteten Liquiditätsanspannung bestimmt.[21]

Entscheidende Frage zur Überprüfung der objektiven Lebensfähigkeit ist, ob das Unternehmen innerhalb des Planungshorizonts mit überwiegender Wahrscheinlichkeit (nach den Umständen des Einzelfalls) seinen Zahlungspflichten bei Fälligkeit nachkommen kann.[22] Das bedeutet, dass innerhalb des Prognosezeitraums die Zahlungsfähigkeit wahrscheinlicher sein muss als die Zahlungsunfähigkeit.[23] Bei der prospektiven Aufstellung der Planungen steht der Geschäftsleitung ein gewisser Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu. Bei der retrospektiven Überprüfung müssen die subjektiven Wahrscheinlichkeiten des Geschäftsleiters nachvollzogen werden können.[24] Da ein Dritter ex-post weder den zugrundeliegenden Wissensvorrat noch die Vorgehensweise des Geschäftsleiters bei der Ableitung der Wahrscheinlichkeiten genau kennt, ist bei der retrospektiven Prüfung der Insolvenzreife ein angemessener Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu berücksichtigen. Dabei ist auf die ex-ante Sicht eines sorgfältigen Geschäftsleiters abzustellen.[25] Es stellt sich hierbei z.B. die Frage wie lange das Management davon ausgehen durfte, dass für die Fortführung des Unternehmens relevante Erfolge bei Nachverhandlungen mit Auftraggebern oder Kreditgebern zu einem Erfolg führen.

 

b.         Prospektive und retrospektive Betrachtung des Eintritts der Überschuldung

Die Frage, ob eine positive Fortführungsprognose vorliegt, muss prospektiv und retrospektiv nach jeweils denselben Grundsätzen erfolgen. Dies ist vor allem deshalb interessengrecht, weil andernfalls die spätere Enthaftungsmöglichkeit durch Aufstellung der Planungsrechnungen zweifelhaft würde.

Die retrospektive Prüfung der Fortführungsprognose unterscheidet sich danach, ob durch die Geschäftsleitung tatsächlich Planungen angestellt wurden oder nicht:

 

aa.       Die Geschäftsleitung hat keine (dokumentierten) Prognosen angestellt

Gibt es keine Planungen der Geschäftsleitung, die auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden könnten, kann die retrograde Ermittlung der Fortführungsprognose nur auf Grundlage des tatsächlichen Verlaufs (also z. B. der gebuchten Ist-Zahlen) erfolgen. Dann besteht ein hohes Risiko für die Geschäftsleitung, ob sie allein durch retrospektiv aufgestellte Planungsrechnungen enthaftet werden kann. Die Erstellung einer solchen retrograden Ermittlung der Fortführungsprognose obliegt dem in Anspruch genommenen Organ.

Am Anfang dieser retrograden Ermittlung steht die Ermittlung des tatsächlichen Eintritts der Zahlungsunfähigkeit (t0). Von diesem Zeitpunkt aus ist dann in der Rückschau zu untersuchen, ob und wenn ja zu welchem Zeitpunkt der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit vorhersehbar gewesen wäre. Weil der früheste Zeitpunkt der Überschuldung maximal 12 Monate (bei Geltung des SanInsKG maximal 4 Monate) vor tatsächlichem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit liegen kann (t-12 Monate bzw. t-4 Monate), ist von diesem Zeitpunkt aus auf Basis der Ist-Zahlen eine Liquiditätsplanung zu rekonstruieren (retrograde Liquiditätsprognose).

Dabei gelten die Ausführungen in der Empfehlung zur Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit entsprechend: in der Prognose ist von einem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit bereits zu dem Zeitpunkt auszugehen, in dem die Prognose eine Unterdeckung zeigt und nicht erst, wenn die Prognose zeigt, dass diese prognostizierte Unterdeckung auch drei Wochen später nicht geschlossen werden wird.

Wenn in der retrograden Liquiditätsprognose Vermögen vor seinem tatsächlichen Zufluss zu einem bestimmten Zeitpunkt angesetzt werden soll, muss belegt werden, dass mit diesem Zufluss ab dem fraglichen Zeitpunkt tatsächlich zu rechnen war (z. B. durch Vorlage entsprechender Verträge oder Zusagen). Im Gegenzug müssen auch Verbindlichkeiten in der retrograden Liquiditätsprognose dann zu ihrem jeweiligen Fälligkeitszeitpunkt berücksichtigt werden, sobald sie fällig wurden und nicht erst wenn sie tatsächlich abgeflossen sind.

Das Risiko besteht v. a. darin, dass sich die Geschäftsleitung nicht ohne weiteres dadurch entlasten kann, dass sie die tatsächliche Entwicklung nicht voraussehen konnte. Die Geschäftsleitung ist in diesen Fällen mit dem vollen Darlegungsrisiko belastet, den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit nicht voraussehen zu können. Dazu gehört es beispielsweise, Zahlungszusagen Dritter, deren Ernsthaftigkeit und Unbedingtheit sowie die finanzielle Leistungsfähigkeit des Dritten zu dokumentieren. Soweit die Bewertung Beurteilungsspielräume zulässt, muss nachvollziehbar dokumentiert sein, warum die konkrete, innerhalb des Beurteilungsspielraums liegende Annahme getroffen wird. Die Dokumentation muss es aus ex-ante-Sicht vertretbar und nachvollziehbar erscheinen lassen, von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Fortführung des Rechtsträgers auszugehen.

 

bb.       Die Geschäftsleitung hat (dokumentierte) Prognosen angestellt

Wenn die Geschäftsleitung tatsächlich Prognosen angestellt hat, sind diese in den letzten zwölf (bei Geltung des SanInsKG maximal vier Monate) Monaten vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit, gerechnet ab dem festgestellten Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit – soweit dies möglich ist –, zu betrachten.[26] Eine Betrachtung der davorliegenden Zeiträume erübrigt sich, da die Planungen in diesen früheren Zeiträumen zwar ggf. fälschlicherweise vom Eintritt der Zahlungsunfähigkeit innerhalb der aus damaliger Sicht nächsten zwölf Monate ausgehen, aber nicht fälschlicherweise davon ausgehen können, dass die Zahlungsunfähigkeit nicht innerhalb der aus damaliger Sicht nächsten zwölf Monate eintritt. Sollte die Geschäftsleitung fälschlicherweise von einem früheren Eintritt der Zahlungsunfähigkeit ausgegangen sein, ist das irrelevant, denn haftungsbegründend ist es allenfalls, wenn die Geschäftsleitung den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit schuldhaft zu spät angenommen hat.

Taugliche Prognosen erfolgen entweder mittels einer Planungsrechnung oder nachvollziehbarer Annahmen, anhand derer der Einritt der Zahlungsunfähigkeit in dem gesetzlich festgelegten Prognosezeitraum vor dem tatsächlichen Eintritt der Zahlungsunfähigkeit (t0) nicht erkennbar war. Gegenstand der Planungsrechnungen ist es, prospektiv zu prüfen, ob innerhalb dieses Prognosezeitraums Zahlungsunfähigkeit eintritt. Vom Stichtag der jeweiligen Planung aus ist zu prüfen, ob und wenn ja wann in dem Prognosezeitraum Zahlungsunfähigkeit eintritt.

Ab dem Zeitpunkt, in dem die Geschäftsleitung anhand ihrer Planung der letzten zwölf (bzw. vier, je nach anwendbarem Prognosezeitraum) Monate vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit den Eintritt dieser Zahlungsunfähigkeit erkannt hat, dürften Argumente gegen eine Haftung der Geschäftsleitung kaum zu finden sein.

Nur wenn und soweit die Planungen der Geschäftsleitung in den letzten zwölf (bzw. vier, je nach anwendbarem Prognosezeitraum) Monaten vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit diese Zahlungsunfähigkeit nicht prognostiziert haben, ist die Planung auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen.

Sollten die Geschäftsleiter aus den Planungen für die Zeiträume t0-12 Monate bis t0-1Tag die im Zeitpunkt t0 eintretende Zahlungsunfähigkeit nicht erkannt haben, ist zu überprüfen, ob sie sie hätten erkennen können. Wenn nicht – also z. B., wenn die Zahlungsunfähigkeit auf einem kurzfristigen, außergewöhnlichen Ereignis beruht – ist der Überschuldungstatbestand nicht erfüllt. Wenn die Planungen die eintretende Zahlungsunfähigkeit hingegen hätten erkennen können, gilt Folgendes: Beruhen die Planungen aus ex-ante-Sicht auf nachvollziehbaren und belastbaren Annahmen, könnte dadurch entweder schon der Tatbestand entfallen oder aber für die Geschäftsleitung eine Entschuldigungsmöglichkeit bestehen. Zeigt sich bei der Überprüfung, dass die Geschäftsleitung bei den Planungen den ihr zustehenden Einschätzungsspielraum überschritten hat oder ihr bei der Planung grobe Fehler unterlaufen sind, ist weder der Ausnahmetatbestand der positiven Fortführungsprognose erfüllt noch kann sich das Organ entschuldigen.

Hilfreich ist es in jedem Fall, die Prognosen durch eine nachvollziehbare Dokumentation zu unterlegen.

 

cc. Sonderproblem: (Unverbindliche) Finanzierungszusagen eines Gesellschafters, insbesondere in start-up-Konstellationen

Zuletzt hat sich der BGH und zweifach das OLG Düsseldorf mit unverbindlichen Finanzierungszusagen im Rahmen der Fortführungsprognose auseinandergesetzt.[27] Bei unverbindlichen Finanzierungszusagen kann der Geschäftsleiter nach der Rechtsprechung des BGH im Regelfall nicht von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Fortführung ausgehen. Jedenfalls ist der Umstand, dass der Gesellschafter gerade keine verbindliche Zusage erteilt hat, bei der Beurteilung zu berücksichtigen und kann gegen die Ernsthaftigkeit der Zusage sprechen. Hätte der Gesellschafter zwingend die Zahlung gewährleisten wollen, hätte er sich auch zur Zahlung verpflichten können. Der Gesellschafter wollte sich offensichtlich die Möglichkeit erhalten, die Liquiditätsausstattung jederzeit einzustellen. Ausnahmen können gelten, wenn der Gesellschafter keine Gewinnerzielung anstrebt oder aus übergeordneten Gründen zur Übernahme von Verlusten bereit ist. Nicht ausreichend ist für sich genommen, dass der Gesellschafter in der Vergangenheit erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt hat.[28]

Das OLG Düsseldorf meinte in zwei Entscheidungen[29], in Start-Up Konstellationen würde es für eine überwiegende Fortführungswahrscheinlichkeit ausreichen, wenn der Gesellschafter eine unverbindliche Finanzierungszusage gibt, diese in der Vergangenheit eingehalten hat und sich aus einer aktuellen, nachvollziehbaren und realistischen Planung ergibt, dass das Geschäftsmodell des Start-Up irgendwann ertragsfähig ist.[30] Diese Erwägungen mögen in den entschiedenen Einzelfällen tragfähig gewesen sein, sind jedoch nicht zwingend zu übertragen auf andere Fälle. Darüber hinaus werden in den Entscheidungen des OLG Düsseldorf Begriffe nicht genau definiert: so ist weder klar, wann man von einem Start-Up sprechen kann (Zählen nur Unternehmen dazu, die eine neue Geschäftsidee entwickeln wollen oder kann auch die Neugründung z. B. eines Handwerksbetriebs ein Start-Up sein? Wenn nur neue Geschäftsideen erfasst werden: wann ist eine Geschäftsidee neu? Zählen auch Unternehmen dazu, die neben einem etablierten Geschäftsbereich einen neuen Geschäftsbereich erschließen oder eine neue Geschäftsidee entwickeln wollen?) noch, wie das Kriterium „irgendwann ertragsfähig“ zu interpretieren ist, also welcher Zeitraum bis zum prognostizierten break-even noch tolerierbar ist.

Sobald es sich um eine verbindliche Finanzierungszusage handelt und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Zusagenden in der erforderlichen Höhe gegeben ist, ist eine etwaige Kündbarkeit der Zusage für die Zukunft unschädlich[31], jedenfalls solange die Geschäftsleitung keine Anhaltspunkte dafür hat, dass eine Kündigung bevorsteht. Dies sollte auch dann gelten, wenn die Finanzierungszusage an Bedingungen geknüpft ist, die Bedingungen aber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erfüllt werden können.

 

c.         Besonderheiten im Zeitraum der Geltung des SanInsKG

Für die Beurteilung des Eintritts der Überschuldung im Zeitraum der Geltung des SanInsKG vom 09.11.2022 bis zum 31.12.2023 sind einige Besonderheiten zu beachten. Da der Zeitraum der Geltung des SanInsKG’s bereits abgelaufen ist, das Gesetz jedoch bei Überprüfung von Haftungstatbeständen relevant ist, werden diese im Anhang beschrieben.

 

2.       2. Stufe: Rechnerische Überschuldung

Für die Ermittlung der rechnerischen Überschuldung sind das Vermögen und die Verbindlichkeiten in einem stichtagsbezogenen Status gegenüberzustellen.[32] Ein sich daraus ergebendes negatives Reinvermögen begründet die Überschuldung und damit die Insolvenzreife. Andernfalls ist die Gesellschaft – wenn es keine positive Fortführungsprognose im gesetzlichen Prognosezeitraum gibt – nur drohend zahlungsunfähig.

Der handelsrechtliche Jahres- oder Zwischenabschluss kann dabei Ausganspunkt der Prüfungen und – im Rahmen des Haftungsprozesses – ein Indiz für eine Überschuldung liefern – aber gerade auch nicht mehr.[33]

Der insolvenzrechtliche Tatbestand der Überschuldung ist aufgrund unterschiedlicher Bewertungsgrundsätze allerdings nicht deckungsgleich mit dem der (handels)bilanziellen Überschuldung. Eine (handels)bilanzielle Überschuldung liegt vor,

wenn in dem handelsrechtlichen Jahresabschluss die vorhandenen Verbindlichkeiten nicht vollständig durch das Vermögen gedeckt sind.[34]

Ist das Eigenkapital aufgezehrt, muss nach § 268 Abs. 3 HGB auf der Aktivseite der Bilanz der gesonderte Posten ’Nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag’ ausgewiesen werden. Die Aufnahme dieses Postens in die Bilanz ist meist ein Indiz dafür, dass eine rechtliche Überschuldung vorliegt (§ 19 InsO).

Der Darlegungs- und Beweislast wird nicht allein durch den Nachweis einer bilanziellen Überschuldung genüge getan. Es müssen zusätzlich Ermittlungen angestellt werden, ob und in welchem Umfang stille Reserven oder sonstige nicht aus der Bilanz ersichtliche Vermögenswerte vorhanden sind.[35]. Der insolvenzrechtliche Überschuldungsbegriff unterscheidet sich von dem (handels)bilanziellen Überschuldungsbegriff grundlegend.[36]

Ziel der insolvenzrechtlichen Überschuldungsprüfung ist es, die tatsächliche, realistische Fähigkeit zur Deckung der Verbindlichkeiten des Unternehmens zu ermitteln. Der dem Überschuldungsstatus zugrundeliegende Leitgedanke lautet: Kann das Unternehmen seine Geschäftsfähigkeit einstellen und in einer Weise abgewickelt werden, dass sämtliche Verbindlichkeiten des Unternehmens zu ihrem jeweiligen Fälligkeitszeitpunkt ausgeglichen werden?

Die handelsrechtlichen Bilanzierungsgrundsätze, wie z.B. Anschaffungskosten-, Imparitäts-, Realisations-, Vorsichts- und Niederstwertprinzip, sind deshalb nicht maßgeblich.[37] Handelsrechtliche Aktivierungs- oder Passivierungsverbote sind unbeachtlich, auch nicht in der Handelsbilanz angesetzte Aktiva und Passiva sind ggf. anzusetzen.[38] Auch das handelsrechtliche Saldierungs- oder Verrechnungsverbot gilt nicht, sollte jedoch aus Gründen der Transparenz im Überschuldungsstatus beachtet werden.

Im Ergebnis ist der tatsächliche Wert des verwertbaren Vermögens – ggf. unter Aufdeckung stiller Reserven – den tatsächlichen Verbindlichkeiten – ggf. unter Aufdeckung stiller Lasten – gegenüberzustellen. Die Vermögenswerte und Schulden sind im Überschuldungsstatus mit Liquidationswerten anzusetzen[39], wobei ein außergerichtliches Liquidationsszenario zugrunde zu legen ist.[40] Dabei ist auch der Zeitfaktor zu berücksichtigen, d. h. es ist ein Verwertungsszenario zugrunde zu legen, welches ohne vorherigen Eintritt von Zahlungsunfähigkeit umsetzbar ist.[41] Der angesetzte Liquidationszeitraum muss also „durchfinanziert“ sein; ist er es nicht, sind lediglich die im Rahmen von Notverkäufen zu erzielenden Erlöse zu aktivieren.

Die Bewertung der Vermögenswerte hat „konservativ“ zu erfolgen.[42] Die Aktivierung von Vermögensgegenständen setzt deren grundsätzliche Verwertungsfähigkeit voraus.[43] Es ist im Ausgangspunkt von einer Einzelverwertung auszugehen. Nur wenn bereits konkrete Verwertungsaussichten bestehen, dies die wahrscheinlichste Verwertungsart darstellt und das Unternehmen bis zur Umsetzung durchfinanziert ist, kann auch die Veräußerung von Unternehmensteilen oder eine Gesamtveräußerung des Geschäftsbetriebs bei der Bewertung angesetzt werden. Besonderheiten sind dabei insbesondere bei der Aktivierung folgender Positionen zu beachten:

  • Immaterielle Vermögenswerte: das handelsrechtliche Aktivierungsverbot des § 248 Abs. 2 S. 2 HGB ist unbeachtlich. Entscheidend für das Ob und die Höhe des Wertansatzes ist allein die tatsächliche Verwertbarkeit. Sofern der Vermögensgegenstand an den Rechtsträger gebunden ist (z. B. öffentlich-rechtliche Erlaubnisse, zivilrechtliche Vertragsbeziehungen etc.) ist ein Ansatz nur dann möglich, wenn eine Sanierung des Rechtsträgers aussichtsreich erscheint oder z.B. das Einverständnis des einzelnen Vertragspartners mit einer Vertragsübernahme besteht oder überwiegend wahrscheinlich ist.
  • Unternehmenswert/Goodwill: auch hier gilt, dass ein Ansatz nur dann möglich ist, wenn die Hebung dieses Wertes in der Liquidation aussichtsreich erscheint, etwa weil ein Betriebsübernehmer bereit ist, einen über die Summe der Einzelwerte der Vermögensgegenstände hinausgehenden Kaufpreis zu entrichten.[44]
  • Streitige Forderungen: eine Aktivierung bestrittener Forderungen ist möglich, wenn und soweit eine realistische Aussicht besteht, dass sie durchgesetzt werden können.[45] Umstritten ist, ob ein teilweiser Ansatz, gemessen an der Erfolgswahrscheinlichkeit, zulässig ist oder ob nur entweder ein vollständiger – im Fall einer Erfolgswahrscheinlichkeit > 50% – oder gar kein Ansatz – im Fall einer Erfolgswahrscheinlichkeit < 50% – zulässig ist. Die besseren Argumente sprechen für einen Ansatz „ganz oder gar nicht“.[46] Etwas anders gilt nur dann, wenn – z.B. bei der Geltendmachung mehrerer Einzelansprüche – ein Teilunterliegen zu erwarten ist.
  • Geleistete Anzahlungen, Kautionen und aktive Rechnungsabgrenzungsposten: Insoweit kann ein Wertansatz nur erfolgen, wenn mit einem Rückfluss geleisteter An- bzw. Vorauszahlungen und Kautionen im Liquidationsszenario gerechnet werden kann.[47] Dies ist regelmäßig nicht der Fall, wenn seitens des Vertragspartners Ansprüche bestehen. Aus Transparenzgründen kann es aber geboten sein, geleistete An- und Vorauszahlungen und Kautionen zu aktivieren und die diesen gegenüberstehenden Verbindlichkeiten in voller Höhe zu passivieren.
  • Gegenstände, die mit Sicherungsrechten belastet sind: Vermögensgegenstände, die der Besicherung von Verbindlichkeiten des Unternehmens selbst dienen, sind mit ihrem vollen realistischen Wert zu aktivieren.[48] Im Gegenzug sind die gesicherten Verbindlichkeiten ebenfalls in voller Höhe zu passivieren. Etwas anderes gilt, wenn die Vermögensgegenstände der Besicherung von Verbindlichkeiten Dritter dienen: dann hängt das Ob und die Höhe der Aktivierung davon ab, ob mit der Inanspruchnahme des Sicherungsrechts zu rechnen ist oder nicht. Ggf. kann, wenn mit einer Inanspruchnahme zu rechnen ist, ein Freistellungsanspruch aktiviert werden, wenn dieser werthaltig ist. Je höher die Wahrscheinlichkeit einer Inanspruchnahme der Drittsicherheit ist, desto geringer dürfte allerdings in der Regel die Realisierbarkeit des Freistellungsanspruchs zu bewerten sein.
  • Aktive latente Steuern: eine Aktivierung ist nur dann und nur insoweit möglich, wenn mit einer Realisierung des Steuervorteils zu rechnen ist. Insbesondere bei steuerlichen Verlustvorträgen kann wegen der unterstellten Liquidation regelmäßig nicht von einer Realisierung ausgegangen werden[49].

Verbindlichkeiten bis zum Abschluss der hypothetischen außergerichtlichen Liquidation sind mit deren realem Wert im Überschuldungsstatus zu passivieren. Die Kosten eines Insolvenzverfahrens sind jedoch nicht zu passivieren, da dem Überschuldungsstatus gerade eine außergerichtliche Liquidation zugrunde gelegt wird. Anderes gilt für die Kosten einer Restrukturierung im StaRUG, die zu passivieren sind, wenn die Restrukturierungssache zur Vermeidung einer Insolvenz erforderlich ist.

Besonderheiten sind bei der Passivierung folgender Positionen zu beachten:

  • Pensionsverpflichtungen: Soweit Pensionsverpflichtungen bedient werden müssen, sind diese mit ihrem sog. Ablösewert bzw. Erfüllungsbetrag anzusetzen.[50] Dieser entspricht weder der handelsbilanziellen Pensionsrückstellung noch dem Betrag, der durch den PSVaG in einem Insolvenzverfahren geltend gemacht würde. Der Ablösewert bzw. Erfüllungsbetrag ist i.d.R. deutlich höher.
  • Gesellschafterdarlehen: Darlehensrückforderungsansprüche von Gesellschaftern sind grundsätzlich zu passivieren. Etwas anderes kann – auch für Forderungen Dritter – nur dann gelten, wenn ein Rangrücktritt oder eine andere Absprache vorliegt, die zu einer vorinsolvenzlichen Durchsetzungssperre führt.[51] Ein bloßer Rangrücktritt gem. § 39 Abs. 2 InsO reicht dafür nicht[52], weil dieser lediglich die Rangfolge im Insolvenzverfahren regelt, dem Überschuldungsstatus aber gerade das Szenario einer außergerichtlichen Liquidation zugrunde liegt.
  • Eigene Anteile: da dem Überschuldungsstatus das Szenario einer außergerichtlichen Liquidation zugrunde liegt, kann eigenen Anteilen kein Wert beigemessen werden. Ein Wertansatz insoweit hat zu unterbleiben.
  • Auslauflöhne: da dem Überschuldungsstatus eine gedachte Betriebseinstellung zugrunde liegt, sind die an Arbeitnehmer zu zahlenden Auslauflöhne für deren jeweiligen Kündigungsfristen zu passivieren. Sofern mit der Aufstellung eines Sozialplans zu rechnen ist, wird der Ansatz ggf. durch die Effekte eines solchen Sozialplans modifiziert.[53]
  • Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen: auch die Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen sind bis zum ersten möglichen Kündigungszeitraum zu passivieren. Schadensmindernde Umstände (z. B. die Neuvermietung im Fall eines Mietverhältnisses) können nur Berücksichtigung finden, wenn ihr Eintritt hinreichend wahrscheinlich erscheint. Ggf. ist eine Abzinsung gerechtfertigt.
  • Streitige Verbindlichkeiten: hier gilt das oben zur Aktivierung streitiger Forderungen Ausgeführte entsprechend. Nach den gleichen Maßstäben sind eventuelle Prozesskostenrisiken zu passivieren.
  • Sonstige Kosten der Abwicklung, mit deren Anfallen zu rechnen ist, sind zu passivieren, z. B. Kosten zur Erfüllung von Aufbewahrungspflichten, die Erstellung von Steuererklärungen und Jahresabschlüssen, ggf. Beraterkosten etc.
  • Erhaltene Anzahlungen, Kautionen und passive Rechnungsabgrenzungsposten sind – spiegelbildlich zu den geleisteten Anzahlungen, Kautionen und aktiven Rechnungsabgrenzungsposten – dann zu passivieren, wenn mit einer entsprechenden Rückzahlungspflicht zu rechnen ist.
  • Passive latente Steuern: eine Passivierung ist nur dann angezeigt, wenn mit einem Entstehen der latenten Steuerbelastung zu rechnen ist, z. B., wenn mit der Veräußerung selbst geschaffener immaterieller Vermögensgegenstände zu rechnen ist, die in der Steuerbilanz nicht berücksichtigt sind, und dadurch ein steuerlich wirksamer Ertrag erzielt wird.

 

Zusammenfassung und Fazit

Die insolvenzrechtliche Überschuldung ist häufig Anlass für Diskussionen. Dies liegt einerseits daran, dass die Erforderlichkeit eines solchen Insolvenzgrundes in Frage gestellt wird. Andererseits sind schon alleine mit dem Begriff „Überschuldung“ unterschiedliche Vorstellungen verbunden. Die Empfehlungen des VID sollen dazu dienen, die Voraussetzungen für das Vorliegen einer insolvenzantragsverpflichtenden insolvenzrechtlichen Überschuldung zu verdeutlichen und damit für Klarheit bei den beteiligten Kreisen zu sorgen. Anknüpfungspunkt ist nicht etwa die – handelsrechtliche – Bilanz, wie vielfach auch mit Verweis auf die BGH-Rechtsprechung argumentiert wird. § 19 InsO setzt an einer fehlenden positiven Fortführungsprognose im maßgeblichen Prognosezeitraum von zwölf Monaten an. Fehlt es an ihr, müssen Vermögen und Schulden unter Liquidationsgesichtspunkten bewertet werden, wobei Ausproduktions- und Gesamtveräußerungsszenarien berücksichtigt werden können. So oder so ist eine Vermögensunterdeckung, die sich aus einem Überschuldungsstatus ergibt, nicht mit dem Bilanzbild des Handelsrechts vergleichbar.

Aus Sicht des VID ist der Insolvenzeröffnungsgrund Überschuldung zur Sicherung von Gläubigerinteressen, aber auch im Sinne eines Unternehmenserhalts und einer sorgfältigen Unternehmensführung unerlässlich. Nur so werden mit der nötigen Stringenz nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart, sondern durch die Erforderlichkeit einer gründlichen, nachvollziehbaren und gut dokumentierten Planung auch die Zukunft des Unternehmens in den Blick genommen. Ist mit dem Eintritt einer Zahlungsunfähigkeit im Zeitraum zwischen zwölf und 24 Monaten zu rechnen, stehen zur Sanierung neben einem Insolvenzverfahren auch die Einleitung einer Restrukturierungssache zur Verfügung. Tritt die Zahlungsunfähigkeit in den nächsten zwölf Monaten ein und liegt im zugrunde zu legenden Liquidationsszenario eine Unterdeckung im Vergleich des Vermögens zu den Verbindlichkeiten vor, muss ein Insolvenzverfahren beantragt werden, welches mit oder ohne Eigenverwaltung die Möglichkeit zur Sanierung mit Hilfe eines Insolvenzplans oder durch eine übertragende Sanierung bietet. Die Sanierungschancen und die Befriedigungsquoten erhöhen sich signifikant, wenn die Krise rechtzeitig erkannt und die notwendigen Schritte rechtzeitig eingeleitet werden. Diesen Zielen hat sich der VID verschrieben. Er hofft daher, dass nicht die Erforderlichkeit von Eröffnungsgründen, sondern die Notwendigkeit einer Klarheit und Erkennbarkeit der Insolvenzeröffnungsgründe die Diskussion bestimmt.

 

Anhang zum SanInsKG

Die Regelungen des SanInsKG spielen auch nach Ablauf des Geltungszeitraums (31.12.2023) noch eine Rolle. Bei der Beurteilung, ob die insolvenzrechtlichen Überschuldung eingetreten ist, können durchaus auch vergangene Zeiträume in den Blick genommen werden, insbesondere bei der Prüfung von Haftungsansprüchen.

Durch § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SanInsKG wurde der zwölfmonatige Prognosehorizont des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO in der Zeit vom 09.11.2022 bis zum 31.12.2023 auf vier Monate verkürzt. Diese zunächst einfach anmutende gesetzliche Anordnung wurde durch zwei Aspekte verkompliziert, was entgegen der nachvollziehbaren Intention des Gesetzgebers nicht zur Rechtssicherheit für Unternehmensleiter beigetragen hat und beiträgt:

 

1.      § 4 Abs. 2 Satz 2 SanInsKG

Durch § 4 Abs. 2 Satz 2 SanInsKG wurde der Geltungszeitraum des § 4 Abs. 2 Satz 1 SanInsKG faktisch noch um 6 Wochen vor dem 09.11.2023 erweitert, indem die Geltung des kürzeren, viermonatigen Prognosehorizont auch für diejenigen Fälle angeordnet wurde, in denen das betroffene Unternehmen zwar schon vor dem 09.11.2022 – und zwar unter dem Regime des langen, zwölfmonatigen Prognosehorizonts – überschuldet war, aber die Insolvenzantragsfristen des § 15a InsO noch nicht abgelaufen waren. Praktisch wird diese nachträgliche Privilegierung nur dann greifen, wenn vor dem 09.11.2022 lediglich eine Überschuldung festzustellen war. Denn lag vor dem 09.11.2022 (auch) Zahlungsunfähigkeit vor, kann die Privilegierung nur dann greifen, wenn der Antragsgrund der Zahlungsunfähigkeit beseitigt wird. Für die Fälle der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit sah § 4 Abs. 2 SanInsKG keinerlei Erleichterungen vor.

Hatte die Geschäftsleitung also im Zeitraum zwischen dem 28.09.2022 und dem 08.11.2022 festgestellt, dass ab dem 09.11.2023 bis zum Ende des jeweiligen zwölfmonatigen Prognosezeitraums Zahlungsunfähigkeit eintreten wird und durfte sie aufgrund der Umstände des Einzelfalls die sechswöchige Antragsfrist des § 15a Abs. 1 Satz 2 InsO ausschöpfen, dann konnte diese Überschuldung ab dem 09.11.2022 ggf. wieder entfallen, wenn aus der Sicht am 09.11.2022 zumindest in den dann folgenden vier Monaten keine Zahlungsunfähigkeit eintreten wird.

Dabei ist jedoch zu beachten, dass § 4 Abs. 2 Satz 2 SanInsKG nicht etwa pauschal anordnete, dass diese nachträgliche Privilegierung immer dann greift, wenn die Höchstfrist von sechs Wochen vor dem 09.11.2022 noch nicht abgelaufen war. § 4 Abs. 2 Satz 2 SanInsKG ordnete vielmehr an, dass am 09.11.2022 „der für eine rechtzeitige Antragstellung maßgebliche Zeitpunkt“ noch nicht verstrichen sein durfte. Gem. § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO lag dieser Zeitpunkt aber grundsätzlich „unverzüglich“ nach Eintritt des Insolvenzgrundes[54] und die sechswöchige Antragsfrist des § 15a Abs. 1 Satz 2 InsO durfte nur dann und nur insoweit ausgeschöpft werden, als dies im Interesse der Gläubigergesamtheit lag.[55]

Trat die Zahlungsunfähigkeit zwischen dem 28.09.2022 und dem 08.11.2022 ein, so ist für die retrospektive Prüfung, ab wann Überschuldung vorlag, nicht lediglich der viermonatige Planungshorizont des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SanInsKG maßgeblich, sondern der zwölfmonatige Planungshorizont des § 19 Abs. 2 InsO.[56] Denn § 4 Abs. 2 Satz 2 SanInsKG ordnete nicht an, dass Satz 1 schon vor dem 09.11.2022 gelten kann (dann müsste er lauten: „Satz 1 gilt auch in dem Zeitraum vor dem 09. November 2022, wenn …“), sondern ordnete nur an, dass Satz 1 auch dann gelten kann, wenn bereits vor dem 09.11.2022 Überschuldung vorlag. Satz 1 ordnete aber wiederum ausdrücklich nur an, dass im Zeitraum ab dem 09.11.2022 ein lediglich viermonatiger Planungshorizont galt.

 

2.      Einfluss der Befristung der Regelung

Der Gesetzgeber meinte, dass die Privilegierungen des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SanInsKG „schon vor dem Ablauf der Geltungsdauer einen Teil ihrer praktischen Wirkung einbüßen können“.[57] Nach der Begründung des Gesetzgebers sollte es für die unter § 4 Absatz 2 SanInsKG zu erstellende Fortführungsprognose relevant sein, „wenn für ein Unternehmen weniger als vier Monate vor dem Ablauf der Geltungsdauer feststeht, dass es unmittelbar nach dem Ablauf dieser Geltungsdauer unter dem dann wieder maßgeblichen Überschuldungsbegriff des § 19 InsO überschuldet sein wird“.[58] In einer Pressemitteilung des BMJ vom 05.10.2022[59] wurde darauf hingewiesen, „dass bereits ab dem 1. September 2023 der ursprüngliche Prognosezeitraum von zwölf Monaten wieder relevant werden kann, wenn absehbar ist, dass auf Grundlage der ab dem 1. Januar 2024 wieder auf einen zwölfmonatigen Zeitraum zu beziehenden Prognose eine Überschuldung bestehen wird“. Weder der Gesetzesbegründung noch der Pressemitteilung konnte ausdrücklich entnommen werden, wie lang der Prognosezeitraum dann ab dem 01.09.2023 zu sein hatte. In der Fachliteratur[60], vor allem aber in Blogbeiträgen und sonstigen Internetveröffentlichungen wurde dieser Hinweis des Gesetzgebers aufgegriffen und vertreten, dass bereits ab dem 01.09.2023 wieder ein Prognosezeitraum von zwölf Monaten zugrunde zu legen war.

Beispiel: Am 01.10.2023 wurde eine Viermonats-Prognose aufgestellt, die eine positive Fortführungsprognose bis einschließlich 31.01.2024 zeigte. Es zeichnete sich jedoch ab, dass die positive Fortführungsprognose am 01.09.2024 entfallen wird. Streng nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SanInsKG wäre am 01.10.2023 und bis einschließlich 31.12.2023 keine Überschuldung gegeben gewesen[61], erst am 01.01.2024 wäre schlagartig Überschuldung eintreten. Nach Andeutung des Gesetzgebers[62] sollte in einer solchen Konstellation jedoch schon am 01.10.2023 Überschuldung vorgelegen haben.

Dogmatisch begründen lässt sich diese Auffassung nur damit, dass eine positive Fortführungsprognose auch dann nicht besteht, wenn in dem maßgeblichen Vier-Monats-Planungshorizont eine Überschuldung eintreten wird.[63] Das legt auch die Gesetzesbegründung nahe, wenn sie meint, dass eine im verkürzten Prognosezeitraum des § 4 Abs.2 SanInsKG eintretende Überschuldung für die zu erstellende Fortführungsprognose relevant sein könne.[64] Die Überschuldung würde nach diesem Verständnis also nicht nur von der Frage abhängen, ob in dem maßgeblichen Planungshorizont Zahlungsunfähigkeit eintritt, sondern auch davon, ob in dem maßgeblichen Planungshorizont eine Überschuldung eintreten wird. Dies steht nicht in Einklang mit dem gängigen Verständnis der Fortführungsprognose: diese ist nach h. M. eine reine Zahlungsfähigkeitsprognose und nicht eine Insolvenzreifeprognose. Es würde in letzter Konsequenz außerdem dazu führen, dass auch der durch § 19 InsO festgelegte Zwölf-Monats-Prognosezeitraum Makulatur würde. Würde zum Beispiel am 01.01.2024 eine Fortführungsprognose erstellt, die zeigt, dass bis Ende 2024 keine Zahlungsunfähigkeit eintritt, hätte es nach überkommenem Verständnis damit sein Bewenden. Wenn es aber für die zu erstellende Fortführungsprognose relevant sein soll, ob bei dem Unternehmen im Prognosezeitraum Überschuldung eintritt, müsste zusätzlich geprüft werden, ob z.B. am 01.12.2024 Überschuldung vorliegen würde; diese zweite, inzidente Überschuldungsprüfung müsste dann wieder einen Prognosezeitraum von zwölf Monaten, also bis 30.11.2025 in den Blick nehmen. Die Überschuldungsprüfung würde sich somit ins Unendliche fortsetzen.

Zudem wäre es nach dieser Auffassung inkonsequent, seit 01.09.2023 lediglich eine Zwölf-Monats-Prognose aufzustellen.[65] Denn wenn relevant sein soll, ob im maßgeblichen Vier-Monats-Prognosezeitraum eine Überschuldung eintreten wird, dann müssten ab dem 01.09.2023 jeweils 16-Monats-Prognosen vorgenommen werden. Denn wenn zu prüfen ist, ob innerhalb des Vier-Monats-Prognosezeitraums eine Überschuldung eintreten wird, ist auch das Ergebnis einer Überschuldungsprüfung am letzten Tag dieses Vier-Monats-Prognosezeitraums in den Blick zu nehmen, die aber auf Basis einer Zwölf-Monats-Prognose zu erstellen ist.

Deshalb ist die Auslegung des Gesetzes vorzugswürdig, nach der die Geschäftsleitungen von Unternehmen bis einschließlich 31.12.2023 ausschließlich einen viermonatigen Prognosehorizont zugrunde zu legen haben.[66] Ob die Fortführungsprognose nach Ende dieses viermonatigen Prognosehorizonts innerhalb eines zwölfmonatigen Prognosehorizonts negativ wird, ist ohne Auswirkungen. Ausdrücklich ist darauf hinzuweisen, dass diese Sichtweise keineswegs zwingend ist, das in den Gesetzgebungsmaterialien[67] anklingende andere Verständnis des Gesetzgebers möglicherweise eine andere Auslegung nahe legt und die Rechtsprechung u.U. zu einem anderen Ergebnis kommt. Deshalb ist Geschäftsleitern (spätestens) seit Ende August 2023 dringend anzuraten, ihre Planungen auf einen 16-Monats-Zeitraum zu erstrecken und – sollten sich in dem 16-monatigen Planungszeitraum Probleme erkennen lassen – ausreichend Vorsorge zu treffen.

 

Stand, 20.02.2025

 

[1] BGH, Urt. v. 03.03.2022 – IX ZR 53/19 (Rz. 24).

[2] Stand vom 13.12.2023, Rn. 2, dort FN 5 (hier Fortbestehensprognose).

[3] Siehe z. B. Andres/Leithaus/Leithaus, InsO § 19 Rn. 6; Braun/Salm-Hoogstraeten, InsO § 19 Rn. 21; Graf-Schlicker/Bremen, InsO § 19 Rn. 17; Kübler/Prütting/Bork/Jacoby/Pape, InsO § 19 Rn. 37; Uhlenbruck/Mock, InsO § 19 Rn. 217; HmbKommInsO/Schröder, § 19 Rn. 18.

[4] BT-Drucks. 19/24181, S. 197.

[5] Mock in: Uhlenbruck, Kommentar zur InsO, 15. Auflage 2019, § 19, Rn. 134.

[6] Haas in: Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. 2022, § 64, Rn. 54.

[7] MüKoInsO/ Drukarczyk/Schüler, 4. Aufl. 2019, InsO, § 19 Rz. 117.

[8] Stellungnahme des TMA Deutschland e.V. an das BMJ aus August 2023 (https://www.tma-deutschland.org/files/downloadbereich/20230831%20STELLUNGNAHME%20TMA%20DEUTSCHLAND%20ZUR%20ZUKUNFT%20DES%20U%CC%88BERSCHULDUNGSBEGRIFFS.pdf); Schluck-Amend, ZRI 2023, 586.

[9] Schreivogel ZRI 2024, 618.

[10] Hoffmann NZI 2024, 803 (empfiehlt die Implementierung einer „akut drohenden Zahlungsunfähigkeit“).

[11] Drukarczyk/Schüler, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 4. Auflage 2019, § 19 Rz. 1 ff.

[12] K. Schmidt/Herchen, in: K. Schmidt, Kommentar zur Insolvenzordnung, 20. Aufl. 2023, InsO § 19 Rz. 1 f.

[13] BGH, Urteil vom 03.03.2022 – IX ZR 53/19, Rz. 14.

[14] Schluck-Amend, ZRI 2023, 586.

[15] Wolfer, in: BeckOK InsR, 34. Ed. 15.01.2024, InsO § 19 Rz. 8 f.

[16] Siehe z. B. IDW S11, Stand 13.12.2023, Rz. 57.

[17] BGH, Urteil vom 13.07.2021 – II ZR 84/20, Rz. 68.

[18] Wolfer, in: BeckOK InsR, 34. Ed. 15.01.2024, InsO § 19 Rz. 12.

[19] vgl. IDW S11, Stand 13.12.2023, Rz. 63.

[20] BGH, Urteil vom 13.07.2021 – II ZR 84/20, Rz. 68.

[21] IDW S11, Stand 13.12.2023, Rz. 65.

[22] vgl. IDW S 11, Stand 13.12.2023, Rz. 63.

[23] vgl. IDW S 11, Stand 13.12.2023, Rz. 68.

[24] Drukarczyk/Schüler, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 4. Auflage 2019, § 19 Rz.76.

[25] BGH, Urteil vom 06.06.1994 – II ZR 292/91; vgl. IDW S11, Stand 13.12.2023, Rz. 68.

[26] , nicht, wenn Sie diesen Zeitpunkt zu früh angenommen hat.

[27] BGH, Urteil vom 13.07.2021 – II ZR 84/20; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.07.2021 – 12 W 7/21; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 09.02.2022 – 12 U 54/21.

[28] BGH, Urteil vom 13.07.2021 – II ZR 84/20.

[29] OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.07.2021 – 12 W 7/21; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 09.02.2022 – 12 U 54/21.

[30] OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.07.2021 – 12 W 7/21.

[31] BGH, Urteil vom 20.09.2010 – II ZR 296/08 („STAR 21“), Rz. 18: keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, dass eine kündbare Patronatserklärung für den Zeitraum ihrer Geltung nicht aktivierbar ist.

[32] IDW S11, Stand 13.12.2023, Rz. 73.

[33] BGH, Urteil vom 03.03.2022 – IX ZR 53/19 Rz. 26 mit Verweis auf die Rechtsprechung des II. Zivilsenats.

[34] BGH, Urt. v. 03.03.2022 – IX ZR 53/19 (Rz. 24).

[35] BGH, Beschluss vom 08.03.2012 – IX ZR 102/11 Rz. 5.

[36] BGH, Urteil vom 26.01.2017 – IX ZR 285/14 Rz. 34: „Ein weiteres Indiz ist die bilanzielle Überschuldung. Zwar ist diese allein kein Insolvenzgrund; jedoch kann eine bilanzielle Überschuldung ein Indiz für von § 252 I Nr. 2 HGB verlangte tatsächlichen Gegebenheiten darstellen und Anlass geben, eine insolvenzrechtliche Überschuldung zu prüfen.“

[37] IDW S 11, Stand 13.12.2023, Rz. 74.

[38] IDW S 11, Stand 13.12.2023, Rz. 77.

[39] IDW S 11, Stand 13.12.2023, Rz. 78.

[40] Insofern ebenfalls abweichend von handelsbilanziellen Grundsätzen, nach denen gem. § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB bei der Bewertung grundsätzlich von der Fortführung der Unternehmenstätigkeit auszugehen ist.

[41] IDW S 11, Stand 13.12.2023, Rz. 79, a. A. MüKoInsO/ Drukarczyk/Schüler, 4. Aufl. 2019, InsO, § 19 Rz. 117.

[42] IDW S 11, Stand 13.12.2023, Rz. 80.

[43] IDW S 11, Stand 13.12.2023, Rz. 76.

[44] IDW S 11, Stand 13.12.2023, Rz. 84.

[45] Mock, in: Uhlenbruck, InsO, 15. Auflage 2019, § 19 Rz.69.

[46] Zu letzterem tendierend wohl OLG Hamburg, Urteil vom 13.10.2017 – 11 U 53/17, Rz. 52: ein prozentualer Ansatz ist nur bei ungewissen wirtschaftlichen Durchsetzungsaussichten möglich.

[47] IDW S 11, Stand 13.12.2023, Rz. 86.

[48] Mock, in: Uhlenbruck, InsO, 15. Auflage 2019, § 19 Rz. 76.

[49] IDW S 11, Stand 13.12.2023, Rz. 87.

[50] IDW S 11, Stand 13.12.2023, Rz. 90.

[51] BGH, Urteil vom 05.03.2015 − IX ZR 133/14; Mock, in: Uhlenbruck, InsO, 15. Auflage 2019, § 19 Rz. 161.

[52] a. A. IDW S 11 Stand 13.12.2023, Rz. 91.

[53] IDW S 11, Stand 13.12.2023, Rz. 89; Mock, in: Uhlenbruck, InsO, 15. Auflage 2019, § 19 Rz. 166.

[54] Darauf weisen auch Schmitz/Bünnemann, NZI 2022, 969, 970 hin.

[55] Klöhn, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 4. Auflage 2019, § 15a Rz. 122 ff.

[56] A. A. Gutmann/Michels, NZI 2023, 7, 11, „Fall 2″.

[57] BT-Drucks. 20/4087, Seite 7.

[58] BT-Drucks. 20/4087, a.a.O.

[59] https://www.bmj.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/1005_FH_Insolvenzrecht.html.

[60] Wolfer, in: BeckOK InsR, 34. Ed. 15.01.2024, § 4 SanInsKG Rz. 8 f.; ders., in: BeckOK InsR, 34. Ed. 15.01.2024, § 19 InsO Rz. 16a; im Ergebnis auch Thole, NZI-Beilage 2023, 36, III. Fallbeispiel 4.

[61] So auch Thole, NZI-Beilage 2023, 36, III. Fallbeispiel 4: „Aus dem Wortlaut des § 4 SanInsKG ergibt sich das nicht.“

[62] BT-Drucks. 20/4087, Seite 7.

[63] Thole, NZI-Beilage 2023, 36, III. Fallbeispiel 4.

[64] BT-Drucks. 20/4087, a.a.O.

[65] Der Rat zur Erstellung einer 12-Monats-Prognose findet sich freilich in der Gesetzesbegründung nicht, wird aber vielfach in der Literatur geäußert: Wolfer, in: BeckOK InsR, 34. Ed. 15.01.2024, § 4 SanInsKG Rz. 10; Thole, NZI-Beilage 2023, 36, III. Fallbeispiel 4 etwa begründet dies damit, dass ein längerer Prognosezeitraum als 12 Monate „ersichtlich nicht gewollt“ sei.

[66] so auch Gutmann/Michels, NZI 2023, 7, 12, „Fall 5/2″ und Schmitz/Bünnemann, NZI 2022, 969, 971.

[67] BT-Drucks. 20/4087, Seite 8.

Insolvenzrechtliche Anregungen für die kommende Legislaturperiode

Wir haben unsere Anregungen für die insolvenzrechtliche Entwicklung in der kommenden Legislaturperiode in einem Schreiben an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zusammengefasst. Als Berufsverband der InsolvenzverwalterInnen und SachwalterInnen möchten wir mit diesen Anregungen den Blick auf notwendige Reformen des Insolvenzrechts lenken, die vor dem Hintergrund des aktuellen Wahlkampfs um Wirtschaftsthemen mehr Aufmerksamkeit verdienen.

 

Verbändeinitiative | Keine Notwendigkeit einer umfassenden Harmonisierung des Insolvenzrechts zur Fortentwicklung des EU-Kapitalmarkts

Unter Mitwirkung  

des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen,

des Dehoga Bundesverbands,

der Deutschen Kreditwirtschaft,

des Deutschen Raiffeisenverbands,

des Handelsverbands Deutschland,

des Mittelstandsverbunds ZGV und

des Verbands Insolvenzverwalter und Sachverwalter Deutschlands:

Verbändeinitiative vom 02.07.2024

Keine Notwendigkeit einer umfassenden Harmonisierung des Insolvenzrechts zur
Fortentwicklung des EU-Kapitalmarkts

Zur Transformationsfinanzierung müssen sowohl die Kapitalmarktfinanzierung als auch die
Kreditfinanzierung gefördert werden

Im Zusammenhang mit der Kapitalmarktunion wird immer wieder eine umfassende europäische
Vereinheitlichung des Insolvenzrechts gefordert. Diese Forderung wird im Wesentlichen damit
begründet, dass grenzüberschreitende Investitionen im und in den EU-Binnenmarkt unterblieben,
weil Investoren aufgrund der Diversität der Insolvenzregime in den Mitgliedstaaten das Schicksal
ihrer Investitionen im Insolvenzfall nicht einschätzen könnten. Abgesehen davon, dass kein Investor –
zumal kein Investor am Finanzmarkt – das Insolvenzrisiko in den Vordergrund seiner Entscheidung
stellt, kann eine europäische Vereinheitlichung des Insolvenzrechts mit großen Nachteilen für den
Wirtschaftsstandort Deutschland verbunden sein, auf die wir im Folgenden hinweisen. Dabei geht es
explizit nicht um das Festhalten an Gewohntem, sondern um eine sachliche Auseinandersetzung mit
den tatsächlichen Anforderungen der Kapitalmarktunion und der Transformationsfinanzierung.

I. Hintergrund

Aktuell gibt es Bestrebungen, Anreize für private Investitionen in die Transformation am
europäischen Kapitalmarkt zu schaffen, wozu eine Harmonisierung des Insolvenzrechts für
erforderlich gehalten wird (Rede von Bundeskanzler Scholz beim 23. Deutschen Bankentag am 23. April 2024 in Berlin (bundesregierung.de) ). Damit soll für Investoren das Insolvenzrisiko beherrschbarer werden,
denn, so der Gedanke, uneinheitliche Regelungen beim Forderungsausfall in der Insolvenz halten
Finanzinvestoren davon ab, sich bei der Transformationsfinanzierung zu beteiligen. Zugleich legen
Diskussionen nahe, dass auch die im deutschen Recht bestehende Insolvenzfestigkeit der
Sicherheiten für Waren-, Bank- oder sonstige Kredite abgeschafft oder eingeschränkt werden soll,
damit im Fall der Insolvenz „mehr für alle“ bleibt. Die Insolvenzrechte anderer Mitgliedstaaten sehen
dies zum Teil bereits jetzt vor.

II. Bewertung

1. Auch ein vereinheitlichtes Insolvenzrecht wird das Insolvenzrisiko nicht ausschalten können.

Auch das beste Insolvenzrecht ändert nichts am Verlustrisiko in einer Insolvenz. Ob und inwieweit ein
europaweit vollharmonisiertes Insolvenzrecht das Insolvenzszenario im jeweiligen Einzelfall
zumindest vorhersehbarer machen würde und ob davon ein positiver Effekt auf
Investitionsentscheidungen ausgehen könnte, ist höchst fraglich. In jedem Fall hängt das konkrete
Verfahrensergebnis von der nationalen Rechtsanwendung ab.

2. Die umfassende Harmonisierung des Insolvenzrechts ist kein Erfordernis für den europäischen
Kapitalmarkt.

Der europäische Kapitalmarkt bedarf keiner umfassenden Harmonisierung des Insolvenzrechts. Die
Politik sollte sich stattdessen auf die dafür wichtigen Themen fokussieren. Die Modernisierung
bestimmter insolvenzbezogener Kapitalmarktregelungen im Rahmen der Finanzsicherheiten- und
Finalitätsrichtlinie wäre deutlich relevanter zur Schaffung eines europäischen Kapitalmarkts. Auch für
den Verbriefungsmarkt bedarf es keiner umfassenden Harmonisierung des Insolvenzrechts. Zu
überlegen wäre insoweit allenfalls, den Übergang der Forderungen (einschließlich der Sicherheiten)
insolvenzrechtlich abzusichern.

3. Eine Entwertung der Sicherheiten für Kredite im Insolvenzverfahren erschwert die Kreditvergabe
deutlich.

Die Kreditfinanzierung ist für die deutsche Wirtschaft und insbesondere den deutschen Mittelstand
von zentraler Bedeutung. Dies gilt nicht nur für möglichst günstige Kreditkonditionen, sondern vor
allem für den ungehinderten Zugang zu der Kreditvergabe selbst. Schränkt man die Bestandskraft der
Kreditsicherheiten in der Insolvenz ein, geht das unmittelbar zulasten der Kreditversorgung der
Wirtschaft und insbesondere des Mittelstandes. Insolvenzfeste Kreditsicherheiten ermöglichen eine
Kreditvergabe in vielen Fällen erst oder sind Grundlage für niedrigere Kreditzinsen.
Auch die in der Praxis sehr relevante Gewährung von Warenkrediten in laufenden
Geschäftsbeziehungen würde durch die Schwächung der Rechte der gesicherten Gläubiger für diese
deutlich riskanter, was unmittelbar zu einer Einstellung oder jedenfalls Verteuerung dieser Kredite
führen würde. Dies wiederum hätte eine faktische Zunahme von Insolvenzen zur Konsequenz.

4. Die Kapitalmarktfinanzierung ist kein Ersatz für die Kreditfinanzierung, sondern kann diese nur
ergänzen.

Kapitalmarktinstrumente sind in erster Linie für Großunternehmen geeignet, in Deutschland also
insbesondere für die ca. 1.000 Großunternehmen mit mehr als 2.000 Beschäftigten. Davon
emittieren beispielsweise weniger als 250 Unternehmen Anleihen. Als Gründe werden die viel zu
hohen Emissionsvolumina sowie Kosten-Nutzen-Aspekte angeführt. Für viele Unternehmen sind die
Fixkosten für den Kapitalmarktzugang und die Kosten für Ratings zu hoch. Diese Nachteile können ein
breiteres Publikum und der Zugang zu Retail-Investoren nicht ausgleichen. Eine Finanzierung am
Kapitalmarkt ist in der Struktur starr, in der Wert- bzw. Zinsentwicklung volatiler, stärker von einer
Fristigkeitsperspektive gelenkt und krisenanfälliger gegenüber dem Risiko der Anschlussfinanzierung.
Kreditfinanzierungen sind demgegenüber regelmäßig auf langfristigere und stabile
Geschäftsbeziehungen gerichtet. Es ist vor allem der Mittelstand (und damit ca. 3,2 Mio.
Unternehmen in Deutschland), der sich in der Regel über Kredite finanziert. Der Kapitalmarkt gibt
Finanzierungen für diese Größenordnung regelmäßig auch nicht her. Überdies werden
Kapitalmarkfinanzierungen i.d.R. als unbesicherte Kredite, sog. Senior Unsecured Notes, begeben, die
keinerlei Sicherheiten (Collateral) vorsehen. Sie sind damit letztlich teurer als ein zumindest in Teilen
besicherter Kredit, weil die Risikoprämie (Credit Spread) als Teil der Kreditkondition nur auf den
risikobehafteten Teil (rechnerischen Blankoanteil) berechnet wird.
D.h., die Kreditfinanzierung bildet die bewährte Basisfinanzierung, die durch den Ausbau der
Finanzierung über den Kapitalmarkt sinnvoll ergänzt werden kann. Deshalb kann es nicht der richtige
Weg sein, die Finanzierung über den Kapitalmarkt zulasten der Kreditfinanzierung voran zu bringen.
Vielmehr müssen beide Finanzierungswege gleichermaßen gefördert werden. Beide Instrumente
haben ihre Berechtigung. Sie sind nebeneinander erforderlich und bedienen unterschiedliche
Zielgruppen und Bedürfnisse.

III. Fazit

Will man die europäische Harmonisierung des Insolvenzrechts angehen, so sind dazu in jedem Fall
eine vorgeschaltete Diskussion und Übereinkunft über die wirtschaftlichen Zusammenhänge und die
Prinzipien, denen ein solches Recht folgen soll, erforderlich. Es ist weder für Deutschland und seine
Wirtschaft, allen voran den Mittelstand, noch im europäischen und internationalen Kontext etwas
gewonnen, wenn das Insolvenzrecht in Europa zwar harmonisiert ist, diese Harmonisierung aber
wirtschafts- und investitionsfeindlich gerät.
Zur Vollendung eines europäischen Kapitalmarkts ist eine umfassende Harmonisierung des
Insolvenzrechts nicht erforderlich. Während die zusätzlichen Anreize für Finanzinvestoren mehr als
fraglich sind, sind die unmittelbaren Nachteile für die deutsche Wirtschaft bei einer Erschwerung der
Kreditfinanzierung greifbar nah.

 

VID-Empfehlungen zum Insolvenzrecht – Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit

Der Verband der Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID) setzt sich für Qualität und Standards in der Insolvenzverwaltung ein. Dazu hat er insbesondere die „Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenz- und Eigenverwaltung“ entwickelt. Darüber hinaus beteiligt sich der VID durch seine Stellungnahmen an der ständigen Fortentwicklung des Insolvenzrechts und positioniert sich gegenüber Politik, Gerichten, Wissenschaft und Verbänden. Vor diesem Hintergrund hat sich der VID u.a. das Ziel gesetzt, die Grundlagen des Insolvenzrechts zu hinterfragen und zu einzelnen Themen Standards und Grundsätze zu entwickeln, die zu einer kontinuierlichen Verbesserung des Wirtschafts- und Insolvenzrechts beitragen sollen. Der VID-Ausschuss „Betriebswirtschaft“ hat daher im Juli 2022 Empfehlungen zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit erarbeitet, die die Diskussion über dieses zentrale Tatbestandsmerkmal mit der Wissenschaft und Praxis anstoßen und zu einer Konturierung dieses Insolvenzeröffnungsgrunds beitragen sollen. Ergänzend stellt er nun seine Empfehlungen zur Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit vor.

  

– Empfehlungen zur Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit –

Ein Beitrag zur Fortentwicklung der Insolvenz- und Sanierungskultur

 

I. Einleitung

Die drohende Zahlungsunfähigkeit wurde im deutschen Insolvenzrecht erst mit der Einführung der Insolvenzordnung am 01.01.1999 ein Insolvenzgrund. Zuvor wurde der Begriff allerdings schon im Insolvenzstrafrecht verwendet, so bei § 283 Abs. 1, Abs. 4, Abs. 5 StGB und § 283d Abs. 1 StGB, die Verhaltensanforderungen an jedweden Schuldner bzw. seine Organe oder andere Vertreter formulieren. Eine genaue Bestimmung der Voraussetzungen gab es jedoch nicht[1]. Entgegen dem Vorschlag der Kommission für Insolvenzrecht wurde jedoch ein Antragsrecht für die Einleitung eines Insolvenzverfahrens bei drohender Zahlungsunfähigkeit nur dem Schuldner selbst, nicht jedoch den Gläubigern, zugestanden[2].

Hintergrund für die Einführung des Insolvenzgrunds war das Bestreben, es einem Schuldner zu ermöglichen, bei einer „sich deutlich abzeichnenden Insolvenz bereits vor ihrem Eintritt verfahrensrechtliche Gegenmaßnahmen einzuleiten[3]. Neben dem Planverfahren, der Eigenverwaltung und der Restschuldbefreiung für natürliche Personen war die Einführung dieses Insolvenzgrundes die maßgebliche Änderung mit der Einführung der InsO.

Im bis zum 31.12.2020 geltenden Wortlaut des § 18 InsO war der Prognosezeitraum nicht definiert. Durch das SanInsFoG wurde der Prognosezeitraum auf „in aller Regel“ 24 Monate festgelegt. Damit sollte einerseits Rechtsklarheit geschaffen werden. Die herrschende Meinung ging davon aus, dass sich der Prognosezeitraum auf das laufende und folgende Geschäftsjahr bezieht[4]. Ebenso war vertreten worden, dass je nach Ausgangslage ein Zeitraum von einigen Monaten bis zu drei Jahren oder aber das Fälligkeitsdatum der spätesten Forderung maßgeblich sein sollte[5]. Andererseits sollte durch die Festlegung auch eine Abgrenzung zum Insolvenzantragsgrund der Überschuldung und der dort vorzunehmenden Fortführungsprognose erfolgen, um damit den tatbestandlichen Überschneidungsbereich zwischen beiden Antragsgründen zu reduzieren[6].

Im Folgenden wird zunächst der Bedeutung des Tatbestandes für die Praxis nachgegangen (Ziff. II). Dann werden die einzelnen Kriterien für die Ermittlung erläutert sowie Vorschläge dazu gemacht. Insbesondere wird dargestellt, dass es bei der Ermittlung maßgeblich auf die Betrachtung absoluter Deckungslücken sowie die Aneinanderreihung von Stichtagen ankommt. Hierbei bietet sich die einfache Prüfung anhand des Modells der drei Schritte auf Basis absoluter Zahlen an (Ziff. III). In der Folge werden anhand von Beispielen die Fallkonstellationen dargestellt (Ziff. IV) und die Ergebnisse zusammengefasst (Ziff. V).

 

II. Bedeutung für die Praxis

Durch das mit dem SanInsFoG zum 01.01.2021 eingeführte StaRUG kommt dem Kriterium der drohenden Zahlungsunfähigkeit eine weitergehende und zentrale Bedeutung zu.

Obgleich die direkt an den Eröffnungsgrund anknüpfenden Haftungsnormen der §§ 2, 3 StaRUG-RegE nicht Gesetz wurden, wurde die Herausnahme nicht mit einem entgegenstehenden gesetzgeberischen Willen begründet, sondern mit der schon jetzt vorhandenen Rechtslage aufgrund der Rechtsprechung zu § 91 AktG, die auch auf andere Rechtssubjekte anwendbar sei[7].

Die Streichung erfolgte mit dem Verständnis, dass sie somit keine Haftungslücken hinterlasse[8]. Bei Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit werden daher auch jetzt schon Verhaltensanforderungen begründet, was durch die Reform des Sanierungsrechts mittels des StaRUG noch einmal deutlich wurde. Ab dem Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit verschieben sich die Abwägungsparameter von den Interessen der Gesellschaft zu den Interessen der Gläubiger[9]

Eine Sanierung mit Hilfe der im StaRUG normierten Instrumente ist nur bei Vorliegen der drohenden Zahlungsunfähigkeit möglich. Neben der Überschuldung ist nur bei drohender Zahlungsunfähigkeit – und nicht bei eingetretener Zahlungsunfähigkeit – die Einleitung eines Schutzschirmverfahrens nach § 270d InsO möglich. Daher ist dieses Stadium einer Unternehmenskrise ein zentraler Anknüpfungspunkt im Sanierungsrecht. Ziel des Gesetzgebers ist die Stärkung der präventiven Krisenvermeidung- bzw. Krisenbewältigung.

Weiterhin ist seit der Einführung der Insolvenzordnung das Stadium der drohenden Zahlungsunfähigkeit das Tatbestandsmerkmal zur frühzeitigen Einleitung einer Sanierung mit Hilfe des Insolvenzrechts. Damit ist es Dreh- und Angelpunkt einer Sanierungskultur, die das Insolvenzverfahren nicht nur als ein allein gläubigerdominiertes Instrumentarium zur Abwicklung von Unternehmen und zum Ausscheiden aus dem Markt versteht, sondern als Hilfestellung zur grundlegenden Neuaufstellung mit dem Eingriff in Vertragsbeziehungen.

Das Tatbestandsmerkmal der drohenden Zahlungsunfähigkeit ist nicht nur bei Erkennen, sondern auch bei der Überwindung der Krise maßgeblich. Wenn das Unternehmen durch Instrumente des modularen Verfahrensrahmens nach dem StaRUG oder durch das Insolvenzplanverfahren saniert werden soll, so muss es anschließend wieder eine positive Fortführungsprognose haben, die über den Zeitraum von in aller Regel 24 Monaten hinausgeht. Es darf nicht mehr drohend zahlungsunfähig und damit auch nicht mehr überschuldet oder sogar zahlungsunfähig sein. Dies ergibt sich beim StaRUG unmittelbar aus § 14 Abs. 1 StaRUG („dass die drohende Zahlungsunfähigkeit durch den Plan beseitigt wird“) und bei der InsO aus dem Sachzusammenhang der Planregelungen, wenn der Unternehmenserhalt angestrebt wird sowie mittelbar aus den §§ 229 und 230 InsO, die von einer Fortführung des Unternehmens ausgehen.

 

III. Ermittlung

Das derzeit angewendete System der Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit weist verschiedene Probleme auf, von denen die wesentlichen nachfolgend dargestellt werden sollen:

 

1. Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit durch Finanzplan

Es ist streitig, wie die drohende Zahlungsunfähigkeit zu ermitteln ist. Es wird häufig vertreten, dass die vom BGH[10] bis 2017 entwickelten Kriterien zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit auch für die Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit heranzuziehen sind[11]. Dabei soll dann in der Prognose bei Eintritt einer relativen Unterdeckung von mindestens 10 % im ersten Prüfungsschritt, wie auch bei der Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit im zweiten Prüfungsschritt geprüft werden, ob drei Wochen später bei Hinzurechnung der Einzahlungen zu den liquiden Mitteln im Zähler und bei Hinzurechnung weiterer fälliger Verbindlichkeiten zu den schon bestehenden fälligen Verbindlichkeiten (dritter Prüfungsschritt) wiederum eine relative Unterdeckung von 10 % oder mehr besteht.

Es ist jedoch festzuhalten, dass diese Methode eine praxisferne, lediglich theoretische, Doppelprognose darstellt.  Wer bereits eine Unterdeckung in ferner Zukunft feststellt, ist nach allgemeiner Lebenserfahrung gerade nicht in der Lage, eine zusätzliche Planung für weitere drei Wochen zu erstellen, in der fällig werdende Forderungen und Verbindlichkeiten berücksichtigt sind[12]. Vielmehr ist auf den Wortlaut des § 18 Abs. 2 InsO abzustellen, ob ein finanzieller Zustand droht, der es nicht mehr erlaubt, „die [also sämtliche] bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt ihrer Fälligkeit zu erfüllen“. Damit sind die Prüfungsvorgänge der drohenden Zahlungsunfähigkeit identisch zu denen der bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit, so wie der VID dies in seinen Empfehlungen im Juli 2022 vorgeschlagen hat[13] .

Praxisnah ist eine Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit anhand eines Finanzplans für den gesamten relevanten Prognosezeitraum. Tritt in diesem eine Unterdeckung ein und ist deren Beseitigung durch einen zukünftigen Liquiditätsüberschuss oder durch Kapitalbeschaffung nicht möglich, dann liegt drohende Zahlungsunfähigkeit vor. 

Somit kommt es auch nicht darauf an, ob bestehende Zahlungspflichten binnen drei weiterer Wochen zu 90 % erfüllt werden können, sondern entscheidend ist, ob ein finanzieller Zustand droht, der es nicht mehr erlaubt, alle, d.h. 100 %, der jetzt (und nicht in drei Wochen) bestehenden Zahlungsverbindlichkeiten bei Fälligkeit (!) zu begleichen.

Die finanzielle Entwicklung wird dabei anhand eines Finanzplans dargestellt. In diesem werden die Ein- und Auszahlungen ausreichend detailliert auf Basis einer nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen entwickelten Unternehmensplanung abgebildet[14]. Der Finanzplan ist ein Liquiditätsplan, der Teil einer integrierten Unternehmensplanung ist, bestehend aus einer Erfolgs-, Vermögens- und Liquiditätsplanung. Diese wiederum ist nur die finanzwirtschaftliche Planung, die aus dem leistungswirtschaftlichen Teil einer Gesamt-Unternehmensplanung abzuleiten ist. Die übergeordnete Planung besteht aus der strategischen, der taktischen und der operativen Planung. Die strategische Planung gibt die Unternehmensziele vor, die taktische Planung zeigt die mittelfristige Ausrichtung von Absatz, Produktion, Personal und Finanzierung, die operative Planung enthält die kurzfristige Feinplanung auf Basis der vorhandenen Kapazitäten.[15]

Ausgehend von einem Stichtag (t0), zu dem der Zahlungsmittelbestand und die fälligen Verbindlichkeiten festzustellen sind, werden die geplanten Ein- und Auszahlungen angesetzt und der Geldmittelbestand zu den nächsten Stichtagen (t1, t2, t3 usw.) ermittelt. Ebenso ist zu diesen Stichtagen jeweils der Bestand an fälligen Verbindlichkeiten zu ermitteln, der sich aus dem Anfangsbestand und den weiteren entstehenden Verbindlichkeiten unter Abzug der schon bezahlten Verbindlichkeiten ergibt. An den Stichtagen ist dann jeweils ein Vergleich der verfügbaren Geldmittel zu den zu bezahlenden (fälligen) Verbindlichkeiten vorzunehmen. Ist eine Unterdeckung vorhanden, die nicht in einem überschaubaren Zeitraum geschlossen wird, so droht die Zahlungsunfähigkeit an dem Stichtag, an dem die Lücke auftritt. Auf eine relative Lücke kann es nicht ankommen, eine absolute Lücke reicht bereits aus.[16] Das Argument, eine kleine Deckungslücke reiche zur Feststellung nicht aus, wird dadurch entkräftet, dass eine kleine Lücke eben auch ohne große Probleme geschlossen werden sollte und dass es auch die Beseitigungsmöglichkeit innerhalb eines überschaubaren Zeitraums gibt.

Die Intervallgröße zwischen den Stichtagen sollten Monate und nicht Quartale sein. Bei einer 24-Monats-Planung ist ein wöchentliches Intervall weder zielführend noch praktikabel. Da diese Anforderungen von kleinen oder mittleren Unternehmen nicht immer erfüllt werden, ist aber mindestens Folgendes in dokumentierter Form zu verlangen:

  • Geschäftsidee und Strategie zur Umsetzung
  • Ertragsplanung (Erfolgsplanung)
  • daraus abgeleitete Liquiditätsplanung (Finanzplanung)

Die Anforderungen an die Dokumentation hängen von der Unternehmensgröße und der Komplexität des Geschäftsmodells ab. Damit können die Annahmen, die Grundlage seiner Unternehmensführung waren, im Nachhinein plausibel darlegt werden.

 

2. Dauer des Prognosezeitraums

Der Prognosezeitraum nach § 18 Abs. 2 S. 2 InsO beträgt „in aller Regel 24 Monate“. Die Formulierung wurde zum 1.1.2021 mit dem SanInsFoG eingeführt.

Nachdem lange streitig war, ob zufällige, variable oder starre Fristen von wenigen Monaten bis hin zu mehreren Jahren für die Dauer des Prognosezeitraums gelten sollen, hat sich der Gesetzgeber auf eine gesetzliche Regelvermutung von 24 Monaten festgelegt und sich dabei letztlich an der herrschenden Meinung orientiert, die jedenfalls auch berücksichtigt, dass im Einzelfall nicht an einer starren Frist festgehalten werden kann, sondern es Ausnahmen geben muss. Dabei werden in der Literatur die Fälligkeiten von hohen Zahlungsverpflichtungen (etwa Anleihen, Schuldverschreibungen oder Mezzanine-Finanzierungen) und unsichere Refinanzierungsmöglichkeiten[17] genannt.

Auch wenn sich aus der Gesetzesbegründung ergibt, dass der Regelzeitraum von 24 Monaten von Fall zu Fall darüber, aber auch darunterliegen kann[18], ist bei lebensnaher Betrachtung davon auszugehen, dass in der Praxis nur ein über die 24 Monate hinausgehender, nicht aber ein kürzerer, Zeitraum gemeint sein kann.

Es mehren sich Stimmen in der Literatur, die davon ausgehen, dass es richtigerweise keine absolute kalendermäßige Grenze geben kann,[19] weshalb der Zeitraum theoretisch mindestens bis zur letzten Fälligkeit einer schon bestehenden Verbindlichkeit reichen kann[20].

Um branchenspezifische (z. B. produktbedingt längere Zyklen als 24 Monate) und auch einzelfallbedingte Besonderheiten (z. B. Auslaufen einer Finanzierung außerhalb der 24 Monate) abzubilden, bedarf es sicherlich der Möglichkeit des Gebrauchs von Ausnahmen. Es sollte jedoch verlangt werden, plausible Annahmen für die Ausnahme von der Regel zu treffen und diese zu dokumentieren, um den 24 Monaten nicht ihre Regelfunktion zu nehmen.

 

3. Welches Szenario muss für die Prognose herangezogen werden?

Welche Annahmen für die Prognose zu treffen sind, ist im Gesetz nicht geregelt.

Die Begründung der Insolvenzordnung enthält Ausführungen zum Begriff „voraussichtlich“ in § 18 Abs. 2 InsO[21].

Dieser sei so zu verstehen, „dass der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit wahrscheinlicher sein muss als deren Vermeidung[22].

Die Rechtsprechung beschäftigt sich mehr mit dem Insolvenzeröffnungsgrund der schon eingetretenen Zahlungsunfähigkeit. Gleichwohl gibt es vereinzelt Entscheidungen. Im Jahr2013 führte der IX. Senat aus, dass sich die der Prognose innewohnende Ungewissheit sowohl auf die künftigen verfügbaren liquiden Mittel als auch auf künftigen fällig werdenden Verbindlichkeiten beziehen kann.[23]

Dennoch stellt sich zu Beginn die Frage, welche Wertansätze zu wählen sind. Dabei geht es um die Ein- oder Mehrwertigkeit der Prognose, die Festlegung des Werts mit Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten und die Frage, ob ein einziger Wert angesetzt wird oder einer mit einem Abschlag oder Sicherheitspuffer.

Es wird vertreten, dass bei Prognoserechnungen Alternativrechnungen zu erstellen sind, in diesem Fall wären mehrere Szenarien durchzuspielen[24]. Bei der Frage nach dem Planwert wird meist auf den Erwartungswert gesetzt[25]. Dieser ist zu unterscheiden vom Median, vom Modal- und vom Zielwert[26]. Fraglich ist, ob der Planwert durch Ansatz eines Sicherheitspuffers reduziert werden soll.[27] Der Gesetzgeber spricht im Rahmen der Eigenverwaltungsplanung generell von der „überwiegenden Wahrscheinlichkeit[28]. Oder einfach gesprochen: Das bedeutet, dass der Eintritt wahrscheinlicher ist als der Nichteintritt. Dies kann auch direkt aus der gesetzlich vorgegebenen Anforderung an eine Fortführungsprognose hergeleitet werden, wie in § 19 Abs. 2 S. 1 InsO formuliert. Dies korrespondiert mit Ausführungen des BGH zur Eintrittswahrscheinlichkeit von einzelnen Teilen eines Konzepts, die Auswirkungen – hier – auf die Planbilanz und eben später auch  auf die Liquiditätsbilanz hat[29]. Aus alledem ist zu schließen, dass der Ansatz von Planwerten einwertig sein sollte, den Sicherheitspuffer schon integriert hat und der Erwartungswert mit Berücksichtigung der Eintrittswahrscheinlichkeit angesetzt wird.

Das korrespondiert auch mit den Annahmen des IDW, so im IDW ES 9 n. F. und IDW ES 15[30].

 

4. Abgrenzung zur Überschuldung

Die drohende Zahlungsunfähigkeit ist das Bindeglied zur Überschuldung, da sie mit ihr die Prognose zur künftigen Finanzkraft gemeinsam hat. Beide unterscheiden sich jedoch in ihren Fristen.

Überschuldung liegt nur dann vor, wenn der Schuldner mit dem Eintreten einer Liquiditätsunterdeckung innerhalb der nächsten zwölf Monate (vier Monate nach § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 2 SanInsKG) zu rechnen hat und die Verbindlichkeiten nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit durch einen Restrukturierungs- oder Insolvenzplan so umgestaltet werden können, dass die Unterdeckung ausgeräumt wird. Dem gegenüber droht die Zahlungsunfähigkeit, wenn die Erfüllung sämtlicher Verbindlichkeiten für die kommenden zwölf Monate überwiegend wahrscheinlich, auf die Sicht von zwei Jahren aber fraglich ist[31].

Die Überschuldung stellt folglich auf die gesamte Vermögenslage des Schuldners ab, während die drohende Zahlungsunfähigkeit auf einen zukünftigen Liquiditätsstatus abstellt.[32]

Gemeinsam ist beiden Insolvenzeröffnungsgründen wiederum die Fortführungsprognose, die eine Zahlungsfähigkeits-, keine Ertragsfähigkeitsprognose ist[33], allerdings mit unterschiedlichen Prognosezeiträumen.

Wegen seines halb so langen Prognosezeitraums gelangt der Überschuldungsstatus, jedenfalls in den Monaten 13 bis 24, des insgesamt 24 Monate währenden Prognosezeitraums der drohenden Zahlungsunfähigkeit, nicht zur Anwendung[34].

Die drohende Zahlungsunfähigkeit wird jedoch unter Umständen von einem anderen Insolvenzgrund „überholt“. Ergibt sich aus dem Finanzplan, dass die Zahlungsmittel zwar innerhalb von drei Wochen, nicht aber innerhalb der nächsten 12 Monate, zur Erfüllung der fällig werdenden Zahlungsverpflichtungen mehr ausreichen und dieser Umstand durch Kapitalbeschaffungsmaßnahmen nicht mehr ausgeglichen werden kann, sind juristische Personen und ihnen gleichgestellte Personenhandelsgesellschaften verpflichtet, unverzüglich das Vorliegen einer Überschuldung zu beurteilen (§ 19 Abs. 2 S. 1 InsO). Ein Insolvenzantragsrecht liegt in diesem Fall (Liquiditätslücke innerhalb der nächsten 12 Monate) also nur bei einer negativen Fortbestehensprognose und positivem Reinvermögen vor. Dies wird aber nur in seltenen Fällen gegeben sein. Sind in diesem Fall hingegen sowohl die Prognose als auch das Reinvermögen negativ, muss die Unternehmensleitung wegen Überschuldung einen Insolvenzantrag stellen.

Unternimmt der Schuldner bei eingetretener drohender Zahlungsunfähigkeit den Versuch einer Sanierung, deren Erfolg wegen eines schlüssigen Sanierungskonzeptes objektiv wie subjektiv als überwiegend wahrscheinlich angesehen werden darf, so ist die Fortführungsprognose i.S.v. §  19 Abs.  2 S. 1 Hs.  2  InsO positiv und der Überschuldungstatbestand nicht gegeben[35].

 

5. Abgrenzung zur Zahlungsunfähigkeit

Die maßgeblichen Kriterien, die im Gesetz nicht festgelegt, aber für die Beurteilung einer – schon eingetretenen oder drohenden – Zahlungsunfähigkeit maßgeblich sind, sind die Wesentlichkeit und die Dauer einer Liquiditätslücke.

Bei der Wesentlichkeit hat sich der BGH jedenfalls mit seiner Liquiditätsbilanz-Rechtsprechung festgelegt[36]. Diese hat er nun durch die Urteile vom 28.04.2022 und 28.06.2022 ergänzt[37].

Die Abgrenzung der drohenden von der schon eingetretenen Zahlungsunfähigkeit ist zuallererst eine Abgrenzung der zu betrachtenden Zeiträume – sowohl prospektiv als auch retrospektiv.

Bei der Zahlungsunfähigkeit wird gemäß der derzeitigen Rechtsanwendung der Drei-Wochen-Zeitraum betrachtet, obgleich es nur ein Schwellenwert sein soll und eine Zahlungsstockung längstens einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten umfassen soll.[38]

Diese Auffassung findet jedoch in der Rechtsprechung keine Entsprechung, auch wenn für eine solche längere Frist eine Entscheidung des BGH herangezogen wird.[39] Dort wird ausdrücklich von einer Frist von drei Wochen ausgegangen und davon, dass eine Frist von ein bis drei Monaten zu lang, eine Frist von ein bis zwei Wochen zu kurz sei.[40]

 

6. Abgrenzung zur Zahlungsfähigkeit (bzw. noch nicht eingetretenen drohenden Zahlungsunfähigkeit)

§ 18 Abs. 2 InsO stellt im Unterschied zur bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit auf die Zahlungsunfähigkeit der Zahlungspflichten zum jeweiligen (künftigen) Fälligkeitszeitpunkt ab, nicht auf die Fälligkeit im Prüfungszeitpunkt. Die Fälligkeit der Zahlungspflichten muss folglich im Laufe der Prognosephase eintreten.

Die Fallkonstellation hat eine Relevanz bei der Prüfung einer Restrukturierungssache nach § 51 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StaRUG sowie bei Einleitung eines Insolvenzverfahrens, welches sich auf den Eröffnungsgrund der drohenden Zahlungsunfähigkeit stützt.

Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass, solange die drohende Zahlungsunfähigkeit noch nicht eingetreten ist, also solange keine liquiditätsbedingte Unfähigkeit, diese Verbindlichkeiten zu begleichen, vorliegt, der Zustand der drohenden Zahlungsunfähigkeit auch noch nicht eingetreten ist. Bis dahin ist eine Zahlungsfähigkeit anzunehmen. Hinsichtlich der maßgeblichen Dauer des Prognosezeitraums wird auf die Ausführungen unter III. 2. verwiesen.

Entscheidend ist diese Abgrenzung vor allem im Rahmen der Vorprüfung eines Restrukturierungsplans (§§ 46, 47 StaRUG), der Prüfung einer Stabilisierungsanordnung (§ 51 Abs. 1. S. 1 Nr. 3 StaRUG) oder der Bestätigung eines Restrukturierungsplans (§ 63 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG). Dabei sollte es bei der Abgrenzung darauf ankommen, ob die überwiegende Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht wird, da über derartige Zukunftsprognosen nie eine sichere Einschätzung zu erlangen ist.[41]  

 

IV. Die Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit anhand von Beispielen

Die Entwicklung eines Unternehmens und seiner Liquiditätssituation lässt sich in folgende Fallgruppen unterteilen:

  • Drohende Zahlungsunfähigkeit tritt ein und bleibt.
  • Drohende Zahlungsunfähigkeit tritt ein und wird wieder behoben.
  • Drohende Zahlungsunfähigkeit tritt ein, wird behoben und tritt wieder ein.

Dies kann anhand der folgenden Schaubilder dargestellt werden:

Die Unterdeckung tritt im Monat 15 ein und bleibt. Dann liegt die drohende Zahlungsunfähigkeit im Monat 15 vor.

Die Unterdeckung tritt im Monat 13 ein und ist im Monat 18 wieder beseitigt. Damit ist sie im maßgeblichen Prognosezeitraum von 24 Monaten zwar einmal eingetreten, aber wieder beseitigt und der Antragsgrund liegt nicht vor.

Die Zahlungsunfähigkeit tritt im Monat 13 ein, ist im Monat 16 behoben, tritt im Monat 20 wieder ein und ist im Monat 23 wieder behoben. Hier gilt dasselbe wie im vorhergehenden Beispiel.

 

V. Zusammenfassung und Fazit

Es ist daher festzuhalten, dass die drohende Zahlungsunfähigkeit anhand eines Finanzplans, der auf einer betriebswirtschaftlichen Unternehmensplanung aufgebaut wird, zu ermitteln ist.

Der Finanzplan vergleicht die verfügbaren liquiden Mittel mit den jeweils fälligen Verbindlichkeiten und stellt fest, ob eine Lücke vorhanden ist. Es ist festzustellen, ob überhaupt und damit eine Lücke mit einer absoluten Größe vorhanden ist. Die vom BGH entwickelten Grundsätze zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit durch eine relative Lücke und mittels eines weiteren Prüfungsschritts innerhalb eines Zeitraums von drei Wochen unter Hinzurechnung von Einzahlungen und weiteren fälligen Verbindlichkeiten sind abzulehnen. Hier gilt dieselbe Kritik, wie sie in den Empfehlungen zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit dargestellt wurde[42], hinzu kommt die nicht praktikable und realitätsferne Ermittlung weiterer Größen innerhalb eines Drei-Wochen-Zeitraums in der Zukunft. Auch bei der Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit ist die Aneinanderreihung von Stichtagsbetrachtungen die einzig sinnvolle Methode. Liegt an drei aufeinanderfolgenden Stichtagen eine Unterdeckung vor, ist grundsätzlich von einer drohenden Zahlungsunfähigkeit auszugehen.

Der Betrachtungszeitraum ist immer der maßgebliche Prüfungszeitraum. Dieser beträgt „in der Regel“ 24 Monate. Abhängig von branchenspezifischen Produktzyklen oder den Finanzierungsintervallen kann der Zeitraum auch länger oder kürzer sein.

Die Finanzplanung sollte auf Monatsbasis erstellt werden. Mit diesem Intervall können u. a. saisonale sowie produktions- und absatzspezifische Schwankungen am besten abgebildet werden.

Die Prognose ist einwertig und hat die überwiegende Eintrittswahrscheinlichkeit zu berücksichtigen. Eine allein optimistische Sichtweise genügt diesen Anforderungen nicht.

Bedeutung hat die drohende Zahlungsunfähigkeit für die Krisenerkennung, die Berechtigung zum Eintritt in den modularen Rahmen nach StaRUG oder zur Einleitung eines Insolvenzverfahrens. Weiterhin besteht nach den Vorstellungen des Gesetzgebers bei Vorliegen einer drohenden Zahlungsunfähigkeit ein Haftungsregime nach den §§ 91, 93 AktG, welches zur Verpflichtung des Geschäftsleiters führt, sein Handeln nun an den Interessen der Gläubiger auszurichten.

Es ist dringend erforderlich, dass Geschäftsleiter bei Vorliegen einer drohenden Zahlungsunfähigkeit Maßnahmen zur Beseitigung einleiten oder aber die Sanierungsinstrumente des StaRUG und der InsO anwenden.

Die Empfehlungen des VID zur Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit sollen dazu beitragen, diesen Insolvenzeröffnungsgrund leichter zu erkennen. Dadurch lassen sich Schäden bei den Geschäftspartnern und das hohe Haftungsrisiko der handelnden Geschäftsleiter vermindern.

 

Stand, 22.01.2024

 

[1] Vgl. Gesetzentwurf InsO, BT-Drs. 12/2443, S. 114.

[2] Gesetzentwurf InsO, BT-Drs. 12/2443, S. 114.

[3] Gesetzentwurf InsO, BT-Drs. 12/2443, S. 114.

[4] In Anlehnung an den IDW S 11 aus dem Jahr 2015, Rn. 60.

[5] Gesetzentwurf SanInsFoG,  BT-Drs. 19/24181, S. 196.

[6] Gesetzentwurf SanInsFoG, BT-Drs. 19/24181, S. 197.

[7] d’Avoine/Michels, NZI 2022, 1, 6 mit Verweis auf RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 103.

[8] Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zum SanInsFoG, BT-Drs. 19/25353, S. 6; ausführlich Bea/Dressler, NZI 2021, 67, 68.

[9] Bea/Dressler, NZI 2021, 67, 68.

[10] BGH, Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04.

[11] FK-InsO/Schmerbach, 10. Auflage 2022, § 18 Rn. 18; Graf-Schlicker/Bremen, 6. Auflage 2022, § 18 Rn. 11; HambKommInsR/Schröder, 9. Auflage 2022, § 18 Rn. 9; HK-InsO/Laroche, 10. Auflage 2020, § 18 Rn. 4; wohl auch MüKoInsO/Drukarczyk, 4. Auflage 2019, § 18 Rn. 65 ff.; a. A. Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Auflage 2019, § 18 Rn. 19; K. Schmidt InsO/K. Schmidt, 20. Auflage 2023, § 18 Rn. 12.

[12] K. Schmidt InsO/K. Schmidt, 20. Auflage 2023, § 18 Rn. 12.

[13] VID- Empfehlungen zum Insolvenzrecht – Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit, abgedruckt in ZRI 2022, 660.

[14] Siehe IDW S 11, Rn. 97 zur drohenden Zahlungsunfähigkeit, Details ergeben sich aus Rn. 34 ff.

[15] Siehe Gutmann, NZI 2022, 457, 458.

[16] Siehe hierzu und zur Missbrauchsanfälligkeit durch Nichtbezahlung von Verbindlichkeiten die Empfehlungen des VID zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit, ZRI 2022, 660, 663.

[17] BeckOK InsO/Wolfer, Stand 15.07.2022, § 18 Rn. 23.

[18] Gesetzentwurf SanInsFoG,  BT-Drs. 19/24181, S. 196.

[19] K. Schmidt InsO/K. Schmidt, 20. Auflage 2023, § 18 Rn. 27; Braun/Salm-Hoogstraeten, 9. Auflage 2022, § 18 Rn. 9; HambKommInsR/Schröder, 9. Auflage 2022, § 18 Rn. 16; Nerlich/Römermann/Mönning InsO, 44. EL November 2021, § 18 Rn. 25; Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Auflage 2019, § 18 Rn. 23, 24.

[20] So dann auch IDW S11, Rn. 95 bzw. IDW ES 11, Rn. 98.

[21] Gesetzentwurf InsO, BT-Drs. 12/2443, S. 115.

[22] Gesetzentwurf InsO, BT-Drs. 12/2443, S. 115.

[23] BGH, Urteil vom 05.12.2013 – IX ZR 93/11, Rn. 10.

[24] Müko/Eilenberger, InsO, 4. Auflage 2020, § 229, Rn. 26; ebenso Müko/Drukarczyk, § 18, Rn. 35.

[25] Nickert/Nickert, ZInsO 2017, 2405, 2407; Nickert/Nickert/Kühne, KTS 2019, 29, 47; Nickert, KTS 2021, 183, 222.

[26] Einzelheiten bei Nickert/Nickert/ /Kühne, a. a. O., S. 40.

[27] So Nickert, KTS 2021, 183, 188 mit umfangreichen Berechnungen.

[28] Gesetzentwurf SanInsFoG, BT-Drs. 19/24181, S. 204.

[29] BGH NZI 2021, 872, 874.

[30] Siehe IDW ES 9, Rn. 28, IDW ES 15, Rn. 33.

[31] Ganter, NZI 2022, 409, 414; Poertzgen, ZInsO 2020, 2509, 2511.

[32] BeckOK InsO/Wolfer, Stand 15.07.2022, § 19 Rn. 4.

[33] Andres/Leithaus/Leithaus, InsO, 4. Auflage 2018, § 19 Rn. 6.

[34] Bieg/Borchardt/Frind/Hölzle, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, 2021, Teil 2 B. II. Rn. 22; Schönfelder NZI 2022, 49, 51.

[35] Gesetzentwurf  SanInsFoG, BT-Drs. 19/24181, S. 197; Flöther/Hoffmann/Braun, StaRUG, 1. Auflage 2021, § 29 Rn. 2; Morgen StaRUG/Hirschberger/Siepmann, 2. Auflage 2022, § 29, Rn.  35; Nerlich/Römermann/Utsch, StaRUG, 47. EL März 2023 Rn.  10; PRS/Pannen, StaRUG, 1. Auflage 2021, § 29 Rn. 73

[36] BGH, Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04; BGH, Urteil vom 12.10.2006 – IX ZR 228/03; BGH, Urteil vom 19.12.2017 – II ZR 88/16.

[37] BGH, Urteil vom 28.04.2022 – IX ZR 48/21; BGH, Urteil vom 28.06.2022 – II ZR 112/21.

[38] HambKomm/Schröder, InsO, 9. Auflage 2022, § 17 Rn. 25 mwN.

[39] HambKomm/Schröder, InsO, 9. Auflage 2022, § 17 Rn. 25 mit Hinweis auf BGH, Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04, II. 2.a.

[40] BGH, Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04, II. 2.a.

[41] So Thole, Anmerkung zum Beschluss des AG Köln vom 03.03.2021 – 83 RES 1/21, NZI 2021, 433, 436; a. A. AG Köln, ebenda.

 

 

Leitsätze für ein künftiges Vergütungsrecht – vorgestellt auf dem Deutschen Insolvenzverwalterkongress 2023

  1. Die Regelung des Vergütungsrechts durch Gesetz, wie durch den VID bereits 2014 vorgeschlagen (zusammenfassend: Bremen/Blersch, Der Entwurf eines Gesetzes zur insolvenzrechtlichen Vergütung; ZIP 2014, Beilage 1), vermeidet Rechtsfortbildung und Lückenschließungen durch die Rechtsprechung und eine Diskussion über die Tragweite der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Sie hebt das Vergütungsrecht eines laut BVerfG eigenständigen Berufs auf dieselbe Stufe wie die Vergütungsrechte anderer freier Berufe.
     
  2. Das Konzept der InsVV ist zu sehr an der Zerschlagung des Schuldnervermögens ausgerichtet.
    Die Vergütung muss – verfassungsrechtlichen Anforderungen genügend – in jedem Einzelfall angemessen sein. Ein modernes Vergütungsrecht muss sich an der Entwicklung der Lebenshaltungskosten, dem Haftungsrisiko und dem Verfahrenserfolg (insbesondere bei erfolgreicher Sanierung) orientieren und die seit dem Inkrafttreten der InsO qualitativ und quantitativ stetig gestiegenen Anforderungen an Insolvenzverwalter berücksichtigen.
     
  3. Auch wenn dies Pauschalierungen impliziert, muss die Vergütung daher für alle durch das Insolvenzverfahren Betroffenen, auch für Anteilseigner und Kreditgeber im Zeitpunkt ihrer Investitionsentscheidung, ohne Hinzuziehung hochspezialisierter Rechtskundiger berechenbar sein.
     
  4. Eine Kalkulierbarkeit der Vergütung erfordert einfache und nachvollziehbare Regelungen. Dies setzt eine Loslösung eines neuen Vergütungsrechts von der kaum mehr überschaubaren Systematik der InsVV, der hierzu ergangenen Rechtsprechung und deren regional unterschiedlicher Anwendung voraus.
    Ein neues Vergütungsrecht muss daher Ermessens- und Beurteilungsspielräume sowie unbestimmte Rechtsbegriffe weitestgehend vermeiden.
     
  5. Eine Vergütung nach Zeitaufwand ist im Voraus nicht berechenbar.  Die Vergütung ist und bleibt daher auch eine Tätigkeitsvergütung.
     
  6. Im Interesse von Transparenz und Vereinfachung des Vergütungsrechts liegen der Vergütung für das Eröffnungs- und das eröffnete Verfahren nach denselben Grundsätzen ermittelte Berechnungsgrundlagen zugrunde. Maßgeblich sind jeweils der Wert des Schuldnervermögens bei Beendigung des Eröffnungs- bzw. des eröffneten Verfahrens (1. Berechnungsgrundlage). Einnahmen und Ausgaben einer Betriebsfortführung gehören nicht hierzu.
     
  7. Transparenz und Vereinfachung des Vergütungsrechts gebieten, dass Erlöse und Ausgaben ausnahmslos nicht saldiert werden: Massekosten und Masseverbindlichkeiten, letztere auch wenn ihnen Erlöse gegenüberstehen, werden nicht vom Wert des Vermögens des Schuldners abgezogen.
     
  8. Der Wert des Vermögens des Schuldners bei Beendigung des Eröffnungs- bzw. des eröffneten Verfahrens umfasst (ggf. anteilig) auch mit Absonderungsrechten belastete Gegenstände des Schuldners; auch diese gehören zum Vermögen des Schuldners. Je nach Umfang der Absonderungsrechte bestimmt deren Bearbeitung wesentlich den Umfang der Tätigkeit des (auch vorläufigen) Verwalters.
     
  9. Die Erhöhung der Grundvergütung durch Einbeziehung von Absonderungsrechten in die Berechnungsgrundlage erfordert eine neue Justierung der Verfahrenskostenbeiträge, um Absonderungsgläubiger angemessen an dem Aufwand der Verwertung ihrer Sicherheit durch den Insolvenzverwalter zu beteiligen. Die aktuelle Begrenzung der Vergütungserhöhung auf 50 % des Verwertungskostenbeitrages (§ 171 Abs. 2 S. 1 InsO) deckt nicht annähernd den mit der Bearbeitung von Absonderungsrechten einhergehenden Aufwand des Verwalters. Zudem bedürfen das Verwertungsrecht des Insolvenzverwalters bei Immobilien und die Kostenbeteiligung der Masse bei der Verwaltung und Verwertung belasteter Immobilien einer Regelung.
     
  10. Die Regelsätze von § 2 InsVV werden durch eine gestaffelte und degressiv verlaufende Grundvergütung ersetzt. Sie vergütet sämtliche Tätigkeiten, die die InsO dem (auch vorläufigen) Insolvenzverwalter zuweist. Sie werden in einer Anlage zur Regelung der Grundvergütung des Insolvenzverwalters aufgeführt. Dazu gehört auch die Bearbeitung von Aus- und Absonderungsrechten (für Letztere vgl. §§ 165 ff. InsO).
     
  11. Eine Betriebsfortführung löst eine zusätzliche Vergütung in Höhe eines degressiv verlaufenden vom-Hundert-Satzes des Umsatzes (2. Berechnungsgrundlage) aus.
     
  12. Die Erhöhung der Grundvergütung infolge der Erweiterung der Berechnungsgrundlage hat eine deutliche Reduzierung der Zuschlagstatbestände zur Folge, welche bei Erfüllung der jeweiligen Tatbestände allerdings ohne Ermessen zu gewähren sind. Zuschlagswürdig sind insbesondere
    • die übertragende Sanierung oder ein Insolvenzplan,
    • die Bearbeitung von Arbeitsverhältnissen,
    • Verhandlung und Abschluss kollektivarbeitsrechtlicher Vereinbarungen (insbesondere Interessenausgleich / Sozialplan, Betriebsvereinbarung),
    • eine hohe Anzahl von Forderungsanmeldungen
    • Auslandsberührung / Internationales Insolvenzrecht.

    Abschläge auf die Grundvergütung lösen aus:

    • eine geringe Zahl von Anmeldungen zur Insolvenztabelle,
    • lediglich ein Vermögensgegenstand,
    • die vorzeitige Amtsbeendigung.

     

  13. Eine Mindestvergütung stellt sicher, dass eine Erhöhung der Vergütung nicht zu einer Verringerung der Eröffnungsquoten geht (vgl. § 26 InsO); die Kosten des Verfahrens sind daher (bereits) gedeckt, wenn eine Mindestvergütung gedeckt ist.
      
  14. Die Vergütung des Sachwalters beträgt 60 % der nach diesen Grundsätzen berechneten Vergütung des Insolvenzverwalters.

 

VID-Empfehlungen zum Insolvenzrecht – Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit

 

Der Verband der Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID) setzt sich für Qualität und Standards in der Insolvenzverwaltung ein. Dazu hat er insbesondere die „Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenz- und Eigenverwaltung“ entwickelt. Darüber hinaus arbeitet der VID durch seine Stellungnahmen an der ständigen Fortentwicklung des Insolvenzrechts und positioniert sich gegenüber Politik, Gerichten, Wissenschaft und Verbänden. Vor diesem Hintergrund hat sich der VID auch das Ziel gesetzt, die Grundlagen des Insolvenzrechts zu hinterfragen und zu einzelnen Themen Standards und Grundsätze zu entwickeln, die zu einer kontinuierlichen Verbesserung des Wirtschafts- und Insolvenzrechts beitragen sollen. Der Ausschuss Betriebswirtschaft des VID hat daher Empfehlungen zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit geschaffen, die die Diskussion über diesen zentralen Begriff mit der Wissenschaft und Praxis anstoßen und zu einer Konturierung dieses Insolvenzeröffnungsgrunds beitragen sollen. Diese Diskussion bedingt eine kritische Auseinandersetzung mit der derzeitigen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Die vorgelegten Empfehlungen weichen von dieser Rechtsprechung ab und sollten deshalb im Einzelfall nicht ohne deren Berücksichtigung zu rechtlichen Beurteilungen herangezogen werden.

 

– Empfehlungen zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit –

Ein Beitrag zur Fortentwicklung der Insolvenz- und Sanierungskultur

 

I. Einleitung

Auch nach Einführung des Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) und nach seiner Überarbeitung infolge der Ergebnisse einer Evaluation ist keine große Wende hin zu einer neuen Insolvenzkultur zu verzeichnen. Aus einer „Strafe“ für wirtschaftliches Scheitern sollte ein Recht auf eine zweite Chance werden. Für angeschlagene Unternehmen sollten Anreize für eine frühzeitige Sanierung geschaffen werden.

Die öffentliche Vermittlung der wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen durch die Bundesregierung seit Beginn der Covid-19-Pandemie war geprägt von dem Begriff der Insolvenzvermeidung und hat den Ruf des Insolvenzverfahrens schwer beschädigt. Das bestehende Stigma der Insolvenz wurde insofern noch vertieft, als dass Unternehmen nur staatliche Finanzhilfen erhalten konnten, solange sie keinen Insolvenzantrag gestellt haben. Eine Sanierung in der Insolvenz wurde nicht unterstützt.

Gleichzeitig wurden zum 1. Januar 2021 mit der Sanierungsmoderation und dem präventiven Restrukturierungsrahmen nach dem StaRUG weitere Sanierungsinstrumente eingeführt, die die Lücke zwischen der außergerichtlichen Sanierung und der Sanierung in der Insolvenz schließen sollen. Trotz dieses ausgezeichneten Sanierungsinstrumentariums bleibt die Frage, warum das Insolvenzverfahren weiterhin mit einem Stigma behaftet ist. Dies umso mehr, als das Insolvenzverfahren auch leistungswirtschaftliche Sanierungsinstrumente bietet, die im Restrukturierungsrahmen nicht vorhanden sind, so z.B. die Erfüllungswahlrecht bei gegenseitigen Verträgen, das Insolvenzgeld sowie arbeitsrechtliche Maßnahmen (Kündigungsfrist von längstens drei Monaten, Deckelung des Sozialplanvolumens). In vielen Fällen wird daher das Insolvenzverfahren nach wie vor das vorzugswürdige Sanierungsverfahren sein.

Nach § 1 der Insolvenzordnung zielt das Insolvenzverfahren darauf ab, die Gläubiger eines Schuldners nach Verwertung des Vermögens gemeinschaftlich zu befriedigen oder in einem Insolvenzplan eine abweichende Regelung insbesondere zum Erhalt des Unternehmens zu treffen. Laut Weltbank-Ranking ist das deutsche Insolvenzrecht eines der besten der Welt. Warum aber wird das Insolvenzverfahren nicht als Sanierungsinstrument wahrgenommen? Wie kann eine entsprechende Akzeptanz des Insolvenzverfahrens erreicht werden?

Mitursächlich dürfte sein, dass die Gläubiger häufig aufgrund der späten Einleitung des Insolvenzverfahrens nur einen Bruchteil auf ihre Forderungen zurückerhalten. Geschäftsführer scheuen die Insolvenzantragstellung wegen der bestehenden Haftungsrisiken bei verspäteter Insolvenzantragstellung. Immer wieder liest man von Anfechtungsansprüchen gegenüber Gläubigern, die die entsprechenden Unternehmen ihrerseits in wirtschaftliche Schwierigkeiten bringen. Dabei sollen auch die Insolvenzanfechtungsregelungen der §§ 129 ff. InsO dem Grunde nach das Vertrauen des Wirtschaftsverkehrs stärken, indem sie Leistungen an Gläubiger nach Eintritt und Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit der Anfechtung unterwerfen.

Insofern gilt es, Geschäftsführer zu befähigen, entsprechend ihrer gesetzlichen Pflicht laufend die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens im Auge zu behalten und so in der Lage zu sein, im Fall der Krise frühzeitig Gegenmaßnahmen einzuleiten, oder – sollte dies im Einzelfall nicht möglich sein – ein Insolvenz- oder Eigenverwaltungsverfahren einzuleiten. Dies könnte den erhofften Mentalitätswechsel bei Unternehmen in Schieflage fördern. Das Problem liegt jedoch darin, dass der Eröffnungsgrund der Zahlungsunfähigkeit nicht ausreichend und transparent konturiert ist und sich viele Geschäftsführer mit der Prüfung der Zahlungs(un)fähigkeit schwertun.

Es muss daher ein Anliegen sein, die Zahlungsunfähigkeit einfacher und klarer zu bestimmen. Nur so können Sanierungschancen – auch innerhalb eines Eigenverwaltungs- oder Insolvenzverfahrens – verbessert und Insolvenzquoten erhöht werden. Der VID hat daher durch seinen Ausschuss Betriebswirtschaft Empfehlungen zur rechnerischen Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit mittels eines Modells der drei Schritte auf Basis absoluter Zahlen erarbeitet, das transparent und praktikabel ist und zudem die Problematik der manipulierbaren Größe am Ausgangsstichtag vermeidet.

 

Im Folgenden wird zunächst die historische Entwicklung der höchstrichterlichen Definition der Zahlungsunfähigkeit erörtert (Ziff. II) und sodann werden die bestehenden Kritikpunkte an dem durch die Rechtsprechung des BGH vorgegebenen Rechenweg aufgezeigt (Ziff. III). Anschließend werden das neue Modell zur Berechnung dargestellt (Ziff. IV) und abschließend die Ergebnisse zusammengefasst (Ziff. V.).

 

 

II.  Die historische Entwicklung der Definition einer Zahlungsunfähigkeit

 

1. Die Entwicklung von der Konkursordnung bis zur Insolvenzordnung

Nach § 102 der Konkursordnung setzte die Eröffnung des Konkursverfahrens die Zahlungsunfähigkeit des Gemeinschuldners voraus. Das Gesetz nahm eine Zahlungsunfähigkeit insbesondere an, wenn die Zahlungseinstellung erfolgt war. Eine rechnerische Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit wurde in der Konkursordnung indes nicht definiert, so dass der Begriff der Zahlungsunfähigkeit durch Literatur und Rechtsprechung erst ausgefüllt werden musste. Auf der Grundlage einer Reichsgerichtsentscheidung vom 17.12.1901[1] entwickelte sich die Rechtsprechung dahingehend, dass der Konkursgrund der Zahlungsunfähigkeit nach § 102 KO voraussetzte, dass der Schuldner dauernd unvermögend war, seine Zahlungsverpflichtungen im Wesentlichen zu erfüllen.[2] Zentrale Merkmale waren somit die Dauer und die Wesentlichkeit. Als Abgrenzungsmerkmal zur Zahlungsstockung musste ermittelt werden, ob die Zahlung oder die Nichtzahlung Regel oder Ausnahme war. Von Bedeutung war dabei das Verhältnis der bezahlten zu den unbezahlten Schulden.[3]

In Bezug auf das Merkmal der Wesentlichkeit ging die h.M. von einer Zahlungsunfähigkeit aus, wenn 10% bis 25% der fälligen Forderungen ungedeckt waren.[4] In Bezug auf das Merkmal der Dauer stellte die h.M. in der Literatur dabei zunächst lediglich auf einen Zeitpunkt ab. Erst 1982 benannte der 54. Deutsche Juristentag als zukünftigen Eröffnungsgrund ausdrücklich „die dauernde Unfähigkeit, bestehende Zahlungsverbindlichkeiten bei Eintritt der Fälligkeit zu begleichen (zeitraumbezogene Zahlungsunfähigkeit)“.[5] Der tatsächlich erforderliche Zeitraum wurde zunächst nicht definiert. Nach der Rechtsprechung wurde ein dauerndes Unvermögen des Schuldners jedenfalls dann angenommen, wenn nicht nur eine vorübergehende Zahlungsstockung vorgelegen hat, welche innerhalb eines Monats beseitigt werden konnte.[6]

Zum 01.01.1999 trat die Insolvenzordnung in Kraft, welche die Konkursordnung von 1877, die Vergleichsordnung von 1935 sowie die in den neuen Ländern geltende Gesamtvollstreckungsordnung (GesO) ablöste und ein für die ganze Bundesrepublik einheitliches Insolvenzrecht schuf. In Ergänzung zu dem bisherigen § 102 KO wurde in § 17 Abs. 2 S. 1 InsO normiert, dass der Schuldner zahlungsunfähig ist, wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Der Gesetzgeber verzichtete bewusst auf die Aufnahme der Merkmale einer „andauernden“ Unfähigkeit sowie der Wesentlichkeit im Gesetzestext, um den Begriff der Zahlungsunfähigkeit nicht zu sehr einzuschränken. Nach der Gesetzesbegründung bedürfe es keiner Klarstellung, dass eine nur vorübergehende Zahlungsstockung keine Zahlungsunfähigkeit bedeute.[7]

 

2. Entwicklung der Rechtsprechung

Mit Einführung der Insolvenzordnung nutzte der Gesetzgeber die Gelegenheit nicht, die von der Rechtsprechung und der Literatur entwickelten Kriterien der Dauer und der Wesentlichkeit in den Gesetzestext des § 17 InsO aufzunehmen. In den Gesetzgebungsmaterialien zur InsO nahm der Gesetzgeber lediglich auf die Merkmale Bezug und stellte insbesondere das Merkmal der Dauerhaftigkeit in Frage.[8] Der Begriff der Zahlungsunfähigkeit sollte nicht zu stark eingeschränkt und damit zu eng ausgelegt werden. Die hohe praktische Relevanz und die nicht eindeutige Definition der Zahlungsunfähigkeit in dem neu eingeführten § 17 InsO führte in der Folge zu einer stetigen Diskussion. Dabei wurde die Rechtsprechung maßgeblich durch die Urteile des IX. Zivilsenats vom 24.05.2005 und 12.10.2006 sowie des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 19.12.2017 bestimmt.[9]

Mit der Grundsatzentscheidung vom 24.05.2005 konkretisierte der IX. Zivilsenat des BGH die gesetzliche Definition in §  17 Abs. 2 S. 1 InsO und stellte Kriterien für die Abgrenzung der Zahlungsunfähigkeit von einer Zahlungs­stockung auf. Demnach ist nicht Zahlungsunfähigkeit, sondern eine rechtlich unerhebliche Zahlungsstockung anzunehmen, wenn der Zeitraum nicht überschritten wird, den eine kreditwürdige Person benötigt, um sich die benötigten Mittel zu leihen. Der Zeitraum, innerhalb dessen die Zahlungsstockung beseitigt sein muss, andernfalls sie als Zahlungsunfähigkeit behandelt wird, war unter der Geltung der KO und der GesO auf etwa einen Monat begrenzt worden.[10] Der BGH folgte in seinem Urteil jedoch dem aus der Gesetzesbegründung zur InsO ersichtlichen Willen des Gesetzgebers diese Frist zu verkürzen und nahm auf die Frist zur Insolvenzantragspflicht des zum Zeitpunkt der Entscheidung geltenden § 64 GmbHG Bezug.[11] Die Vorschrift des § 64 GmbHG zeige, dass „das Gesetz eine Ungewissheit über die Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft längstens drei Wochen hinzunehmen bereit sei“. Darüber hinaus definierte der IX. Senat die relevante Höhe der Liquiditätslücke und führte die Grenze von 10  % ein. Auf eine zahlenmäßige Vorgabe könne nicht völlig verzichtet werden.[12] Betrage eine innerhalb von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke des Schuldners weniger als 10  % seiner fälligen Gesamtverbindlichkeiten, sei regelmäßig von Zahlungsfähigkeit auszugehen, es sei denn, es sei bereits absehbar, dass die Lücke demnächst mehr als 10 % erreichen werde. Betrage die Liquiditätslücke des Schuldners indes 10 % oder mehr, sei regelmäßig von Zahlungsunfähigkeit auszugehen, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt werde und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten sei.[13] Im Ergebnis führte der BGH neben den Merkmalen der Dauer („drei Wochen“) und der Wesentlichkeit (10  % der fälligen Gesamtverbindlichkeiten) in der vorgenannten Ent­schei­dung auch das zu­sätz­liche Merkmal der „Zumutbarkeit des Zuwartens“ ein.[14]

In der Grundsatzentscheidung von 2005 hielt der BGH fest, dass „im Rahmen einer Liquiditätsbilanz die aktuell verfügbaren und kurzfristig verfügbar werdenden Mittel zu den an demselben Stichtag fälligen und eingeforderten Verbindlichkeiten in Beziehung gesetzt werden müssten“.[15] In dem Urteil vom 12.10.2006 konkretisierte der BGH seine Rechtsprechung zur Berechnung der Liquiditätslücke und die Anforderungen an eine Liquiditätsbilanz.[16] Der BGH sprach nun davon, dass „die im maßgeblichen Zeitpunkt verfügbaren und innerhalb von drei Wochen flüssig zu machenden Mittel zu den am selben Stichtag fälligen und eingeforderten Verbindlichkeiten in Beziehung zu setzen sind.“[17] Dies ist die Grundlage der sog. Bugwellentheorie, welche in der Folge vor allem in der Literatur stark kritisiert wurde.[18] Der Bugwelleneffekt wird dabei darin gesehen, dass der Schuldner, vom Prüfungsstichtag aus gesehen, auf jeweils drei Wochen nicht nur unbeglichene fällige Forderungen („Passiva I“), sondern auch zwischenzeitlich fällig werdende Forderungen vor sich herschieben kann („Passiva II“), ohne dass Überschuldung vorliegt.[19]

Mit Urteil vom 19.12.2017 ersetzte der II. Senat des BGH die „Bugwellentheorie“ durch eine neue Berechnung der Liquiditätsbilanz anhand einer Finanzplanrechnung.[20] Nach dieser Rechtsprechung sollten bei der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit anhand einer Liquiditätsbilanz erstmals auch die innerhalb von drei Wochen nach dem Stichtag fällig werdenden und eingeforderten Verbindlichkeiten („Passiva II“) einzubeziehen sein.[21] Durch die Berücksichtigung der Passiva  II in der Berechnungsgrundlage zur Ermittlung der prozentualen Unterdeckung weichte der BGH im Ergebnis das Kriterium der Wesentlichkeit auf. Der durch die Berechnung entstehende „Volumeneffekt“, welcher dazu führt, dass die Liquiditätslücke kleiner wird, ist zu diskutieren. Insbesondere ergeben sich durch die Einbeziehung der Passiva II Deckungsgrade, die höher sind als der tatsächliche.[22]

Nach Auffassung (des Ausschusses Betriebswirtschaft) des VID darf die Diskussion nach der Entscheidung des II. Senats des BGH nicht stehenbleiben, sondern muss fortgeführt werden; im Austausch mit Wissenschaft und Praxis sollte eine sinnvolle Berechnung als Grundlage für die Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit geschaffen werden.

 

 

III. Schwächen des derzeitigen Systems der Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit

Die derzeit überwiegend vertretene Methode zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit weist verschiedene Schwächen auf, von denen die wesentlichen nachfolgend dargestellt werden sollen:

 

1. Methodische Schwäche: Systemwidrige Verknüpfung von Bestands- und Flussgrößen

Wie eingangs dargestellt, wird derzeit die Zahlungsunfähigkeit in der Weise ermittelt, dass zunächst eine Bestandsgrößte, nämlich die vorhandene Liquidität einschließlich der frei verfügbaren Kreditmittel (sog. Aktiva I) mit einer weiteren Bestandsgröße, nämlich den fälligen Verbindlichkeiten (sog. Passiva I) zu einem gewählten Stichtag miteinander ins Verhältnis gesetzt werden, um den prozentualen Deckungsgrad zu ermitteln. Ergibt sich aus diesem ersten Schritt eine Unterdeckung, wird in einem zweiten Schritt eine Flussgröße – nämlich die in einem Zeitraum von drei Wochen voraussichtlich eingehenden Einzahlungen (sog. „Aktiva II“) –  mit einer weiteren Flussgröße, den in einem Zeitraum von drei Wochen fällig werdenden Verbindlichkeiten (sog. Passiva II) verglichen und ein weiterer Deckungsgrad ermittelt.

Zur finalen Beurteilung, ob und in welchem Umfang Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist, werden also nach dem derzeitigen Verständnis statische Größen („Aktiva I“ und „Passiva I“) mit dynamischen Größen („Aktiva II“ und „Passiva II“) addiert, was an sich systemwidrig ist: [23]

Entweder man betrachtet – i. d. R. retrospektiv – die Liquiditätsbilanz zu einem bestimmten Stichtag oder man plant prognostisch im Sinne einer Liquiditäts- oder Finanzplanung die Fähigkeit der Unternehmung, die bekannten und vorhersehbaren Zahlungsverpflichtungen in einem bestimmten Zeitraum zu erfüllen. Eine Kombination beider Elemente bringt dagegen keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn.

 

2. Manipulierbarkeit der Ausgangsgrößen und Volumeneffekt

Da die Deckungsgrade als Ausgangsgrößen für die Frage der Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit in Form eines Verhältnisses – und nicht als absolute Zahl einer Unterdeckung – ermittelt werden, sind sie – zumindest theoretisch – manipulationsanfällig: So ergibt sich z. B. der erstaunliche Befund, dass die prozentual ausgedrückte Deckungslücke sinkt, je weniger fällige Verbindlichkeiten ein Unternehmer bezahlt, sofern er gleichzeitig noch über Zahlungseingänge verfügt. Anders ausgedrückt: Durch das Anhäufen von fälligen Zahlungsverpflichtungen und das Ansammeln von Liquidität hat es der Unternehmer in der Hand, seinen Deckungsgrad zu „optimieren“, sofern die Verbindlichkeiten im selben Zeitraum absolut gesehen schneller wachsen als das Liquiditätspolster.

Auch der sog. Volumeneffekt kann den dargestellten Berechnungsweg erheblich beeinflussen, was das folgende kurze Beispiel verdeutlichen soll: Bei verfügbaren Mitteln in Höhe von EUR 10.000 und fälligen Verbindlichkeiten in Höhe von EUR 100.000 ergäbe sich eine prozentuale Unterdeckung in Höhe von 90 %. Wachsen nun die fälligen Verbindlichkeiten und die liquiden Mittel jeweils um EUR 1 Mio. an, würde sich die prozentuale Unterdeckung dramatisch auf nur noch rd. 8,2 % reduzieren, obwohl der absolute Betrag der Unterdeckung (EUR 90.000) identisch geblieben ist. Im genannten Beispielsfall würde also eine Insolvenzantragspflicht entfallen, obwohl sich die Liquiditätslage des Unternehmens nicht verbessert hat.[24]

 

3. Problem des nicht definierten Prüfungsstichtages

Jedes System der Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit muss sich daran messen lassen, wie gut es für den Geschäftsleiter eines Unternehmens dafür geeignet ist, möglichst ohne großen zusätzlichen Aufwand zu erkennen, ob eine die Insolvenzantragspflicht nach § 15a InsO auslösende Zahlungsunfähigkeit bereits eingetreten ist oder unmittelbar bevorsteht und damit Handlungsdruck besteht. Bislang gibt es allerdings keine eindeutigen Vorgaben dahingehend, zu welchem Stichtag das Vorliegen der Zahlungsunfähigkeit zu prüfen ist. Bei einer retrospektiven Betrachtungsweise orientiert sich der Insolvenzverwalter in der Regel am Zeitpunkt des Insolvenzantrages und prüft dann im Rahmen von Anfechtungs- oder Organhaftungsansprüchen, ob zu einem bestimmten Zeitpunkt vor dem Insolvenzantrag Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist.

Dieses Vorgehen ist für den Geschäftsführer eines „lebenden“ Unternehmens jedoch nicht praktikabel, da dessen Blick in die Zukunft gerichtet sein muss.[25] In der Regel analysiert der Geschäftsleiter eines Unternehmens jeweils zum Monatsende anhand einer betriebswirtschaftlichen Auswertung den Erfolg (oder Misserfolg) der wirtschaftlichen Tätigkeit im vergangenen Monat und in den kumulierten Ergebnissen der Vormonate im laufenden Rechnungslegungszeitraum. Dieser Zeitraum ergibt sich ohnehin aus den handels- und steuerrechtlichen Pflichten. Sofern nicht ausnahmsweise eine besondere Veranlassung dafür besteht, für die Prüfung der Zahlungsfähigkeit einer Unternehmung an einem bestimmten vom Monatsende abweichenden Stichtag anzusetzen, ist es daher praxistauglich, diese Prüfung mit dem Monatsletzten zu beginnen und die Liquiditätsentwicklung bis mindestens zum nächsten Monatsletzten zu planen.

Ein Bruch mit dem derzeit praktizierten System der Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit ergäbe sich daraus nicht, da die Rechtsprechung keine konkreten Vorgaben dazu macht, welcher Stichtag anzusetzen ist.

Mit dem nachfolgend dargestellten Modell einer Zahlungsunfähigkeitsprüfung in drei Schritten auf der Basis absoluter Zahlen könnten diese Schwächen überwunden werden; mit ihm stünde ein praxistaugliches Modell zur Verfügung, das sowohl prognostisch als auch retrospektiv angewendet werden könnte.

 

IV. Die rechnerische Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit mittels eines Modells der drei  Schritte auf Basis absoluter Zahlen

 

1. Die drei Schritte zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit

Die Bestandsgrößen „verfügbare Mittel“ und „fällige Verbindlichkeiten“ sind die Ausgangsgrößen für die Ermittlung der Zahlungsfähigkeit, respektive Zahlungsunfähigkeit.

Aus der Problematik der Manipulierbarkeit der Verhältnisse der Bestandsgrößen zueinander folgt der Schluss, dass nicht die relative Unterdeckung zum Stichtag und damit eine prozentuale Größe, sondern die absolute Unterdeckung ermittelt werden muss. Gibt es von vornherein keine Unterdeckung, stellen sich die Folgefragen nicht, jedenfalls nicht in Hinblick auf den betrachteten Stichtag.

Gibt es eine Unterdeckung, ist dem Gesichtspunkt Rechnung zu tragen, dass ausschließlich eine Deckungslücke zum überprüften Stichtag noch nicht den Eröffnungsgrund auslöst. Denn diese Lücke könnte nur eine Momentaufnahme sein. Die Aneinanderreihung von Stichtagen, die täglich aufeinanderfolgen, würde die Liquiditätsverhältnisse genau abbilden, entspricht aber nicht einer praxisnahen Handhabung. Von einem Tag auf den anderen kann sich die Unterdeckung ändern oder sie kann beseitigt sein, dies ist jedoch sehr kurzfristig.

Praxisnah wäre nach der Feststellung einer Unterdeckung eine Überprüfung zum jeweiligen Monatsende in einem Liquiditätsplan.[26] Dieser Rhythmus und Ausgangsbezugspunkt ist maßgeblich für die Bezahlung vieler wiederkehrender Verbindlichkeiten.[27] Weiterhin erfordern die handels- und steuerrechtlichen Rechnungslegungspflichten, abgeleitet aus den Grund-sätzen ordnungsgemäßer Buchführung (GoB) und aus den steuerlichen Fristen, eine Buchführung nach Zeitabschnitten, meistens nach Monaten.[28] Daher bietet sich zunächst der Monatsletzte als maßgeblicher Stichtag an.

Wenn sich eine maßgebliche Deckungslücke sicher an einem anderen Tag des Monats – prospektiv oder retrospektiv – auftut, so ist an diesem Tag eine Überprüfung nach den nachfolgend genannten Grundsätzen sinnvoll.

Ist an einem ersten Stichtag die Deckungslücke vorhanden – sei es an einem Monatsletzten oder bei Entdecken einer maßgeblichen Lücke, die erkennbar und nicht sicher unverzüglich geschlossen wird –, so entsteht Prüfungs- und Handlungsbedarf. Prospektiv ist dann die zukünftige Entwicklung zu überprüfen, sinnvollerweise am Monatsende (wenn nicht sowieso der erste Stichtag ein Monatsletzter ist). Retrospektiv gilt das Gleiche, nur hier ist nicht die am ersten Stichtag vorhandene oder zu erstellende Rechnung relevant, sondern die tatsächliche Situation in der Nachbetrachtung.[29] 

 

Erster Schritt:

Der Geschäftsleiter stellt an einem Zeitpunkt im Monat (Anfang, im Lauf des Monats oder am Ende; erster Stichtag) durch den Vergleich der verfügbaren Mittel mit den fälligen Verbindlichkeiten eine Unterdeckung fest.

Zweiter Schritt:

Nun ist zu schauen, ob auch am Monatsletzten eine Unterdeckung bestehen wird (Ende Monat 1; zweiter Stichtag, es sei denn, im ersten Schritt ist der Stichtag der Monatsletzte, dann sind diese Stichtage gleich). Ist das nicht der Fall, ist die Prüfung zu Ende. Ist das der Fall, dann sind spätestens jetzt Aktivitäten zu entwickeln, um diese Unterdeckung zu beseitigen.

Dritter Schritt:

Auf den Stichtag des folgenden Monatsletzten erfolgt erneut die Prüfung, ob eine Unterdeckung vorliegen wird (Ende Monat 2; dritter Stichtag). Besteht diese nicht, ist die Prüfung zu Ende. Besteht die Unterdeckung, dann ist die Zahlungsunfähigkeit gegeben, und zwar zu dem Stichtag, an dem die Unterdeckung zuerst festgestellt wurde (siehe „Erster Schritt“; erster Stichtag). Der dritte Schritt ist einzubauen, um eine die Stichtagsbetrachtung ergänzende Betrachtung des Zeitraums herzustellen.

 

2. Retrospektive und prospektive Betrachtung

Dieses Prüfschema ist prospektiv und retrospektiv anzuwenden.

Für die prospektive Betrachtung des Geschäftsleiters heißt das, ausgehend von dem ersten Stichtag, nun eine gesondert erforderliche Planung aufzustellen. Ausgehend von den verfügbaren Mitteln und fälligen Verbindlichkeiten sind die Umsätze und Aufwendungen bis zum nächsten Stichtag zu planen. Anschließend sind die Zahlungsströme abzubilden. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, die Auszahlungen und fälligen Verbindlichkeiten einzubeziehen. Das Problem besteht darin, eine realistische Einschätzung hinsichtlich der Einzahlungen vorzunehmen. Es ist zu ermitteln, welche der abrechenbaren Forderungen nicht nur fällig sind, sondern auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eingezogen werden können.[30] Dies ist der schon angesprochene Unterschied zu den Verbindlichkeiten, einerseits der Chronologie der Geschäftsvorfälle geschuldet, andererseits der Risikoverteilung in Hinblick auf einen möglichen Ausfall bei der Einziehung der Forderung gegenüber dem Zahlungspflichtigen. Daraus ergeben sich dann die Bestandsgrößen „verfügbare Mittel“ und „fällige Verbindlichkeiten“ und daraus wird dann die Über- oder Unterdeckung abgebildet. Dasselbe gilt dann für den weiteren Zeitraum zum nächsten Stichtag.

Ein Geschäftsleiter ist auch jetzt – spätestens seit der Geltung des SanInsFoG ab dem 01.01.2021 – verpflichtet, eine Finanzplanung aufzusetzen, um darauf aufbauend fortlaufend über Entwicklungen zu wachen, die den Fortbestand des Unternehmens gefährden können. Die §§ 2, 3 StaRUG-RegE wurden zwar nicht Gesetz. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass es in dem Stadium einer drohenden Zahlungsunfähigkeit keine Verantwortlichkeit des Geschäftsleiters für die Gläubigerinteressen gibt.[31] Die §§ 2, 3 StaRUG-RegE wurden wegen der Einwendungen des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz herausgenommen.[32] In der Begründung wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass durch die Streichung keine Haftungslücke entsteht. Das Bedürfnis nach Gläubigerschutz wird nach der Auffassung des Rechtsausschusses durch die gesellschaftsrechtlichen Haftungsnormen aufgefangen.[33] Die einzige Einschränkung dieses Schutzes erfolgt durch die Verkürzung des relevanten Prognosezeitraums auf zwölf Monate beim Überschuldungstatbestand. Aus all diesen in der Begründung des Ausschusses genannten Punkten ist der Schutz erforderlich. Und dieser erfordert die vorausschauende Planung durch die Aufstellung eines Finanzplans, der sinnvollerweise aufbauend auf einer Plan-GuV-Rechnung eine Plan-Liquiditätsrechnung ist.[34] Bei dieser sind schon per se etwaige Schwellenwerte bei der Feststellung einer Unterdeckung unbeachtlich.[35]

Die Prüfung muss nicht nur prospektiv von dem Geschäftsleiter angewandt werden, sondern auch retrospektiv von dem die Situation nach Eintritt der Insolvenz prüfenden Sachverständigen, vorläufigen und nach Insolvenzeröffnung bestellten Insolvenzverwalter oder Sachwalter. Dabei sind dann nicht die Planzahlen zugrunde zu legen, sondern die Ist-Zahlen aus der Buchhaltung. Da reicht dann – das muss der Geschäftsleiter bis zum Beweis des Gegenteils gegen sich gelten lassen – der Vergleich anhand der unterjährigen, monatlichen Buchführung. Die Kreditorenkonten der jeweiligen Monate bilden die Grundlage der Prüfung. Die Buchhaltungsprogramme bieten die Möglichkeit, die Fälligkeiten der Forderungen und Verbindlichkeiten festzulegen.[36] Zu den nach den GOBD aufzeichnungspflichtigen Inhalten gehört auch die Fälligkeit der sich aus Geschäftsvorfällen ergebenden Forderungen und Verbindlichkeiten.[37] Daher müssen sich diese Angaben unmittelbar aus der Buchhaltung ergeben. Die Praxis zeigt, dass diese Möglichkeit nicht immer wahrgenommen wird. In solchen Fällen muss – eben bis zum Beweis des Gegenteils – die Fälligkeit der Verbindlichkeiten unterstellt werden, jedenfalls soweit es sich nicht um Verbindlichkeiten mit langfristigen Zahlungszielen, wie z. B. Darlehen handelt.

Die retrospektive Betrachtung kann (und muss) auch von dem Geschäftsleiter auf Basis der Buchhaltung vorgenommen werden, wenn er feststellt, dass die Buchhaltung des letzten Monats oder der letzten Monate ebenfalls belegt, dass nicht sämtliche fälligen Verbindlichkeiten beglichen werden können.

Graphisch kann das wie folgt dargestellt werden[38]:

Die Unterdeckung tritt im Lauf des Monats 1 ein (Monat 0,5), bleibt am Ende des Monats 1 bestehen und auch bis zum Ende des Monats 2.

Die Unterdeckung tritt im Lauf des Monats 1 ein (Monat 0,5), bleibt am Ende des Monats 1 bestehen, wird behoben im Monat 2 und tritt bis zum Ende des Monats 2 wieder ein.

Die Unterdeckung tritt im Lauf des Monats 1 ein (Monat 0,5), bleibt am Ende des Monats 1 bestehen, wird behoben im Monat 2 und verändert sich nicht bis zum Ende des Monats 2.

Die Unterdeckung tritt im Lauf des Monats 1 ein (Monate 0,5), wird behoben am Ende des Monats 1, tritt erneut ein im Monat 2 und bleibt so bis zum Ende des Monats 2.

In den Fallbeispielen werden die typischen Konstellationen auf die entscheidenden Parameter heruntergebrochen. Daher bleibt – modellhaft – die Liquidität immer gleich (100 Geldeinheiten, GE), während sich die Zahl der fälligen Verbindlichkeiten in Geldeinheiten ändert.

In den Fällen 1 und 2 liegt am Ende des Monats 1 ebenso wie am Ende des Monats 2 eine Unterdeckung vor. Im Fall 3 liegt zwar am Ende des Monats 1, nicht aber am Ende des Monats 2, eine Unterdeckung vor. Im Fall 4 liegt am Ende des Monats 1 keine Unterdeckung vor, aber dann im Monat 2 und an dessen Ende.

In den Fällen 1 und 2 ist das Unternehmen zahlungsunfähig. Die Zahlungsunfähigkeit liegt aber nicht erst zum Zeitpunkt 1 oder 2, sondern zum Zeitpunkt der erstmals festgestellten Unterdeckung vor. Prospektiv ist das vom Unternehmen anhand der reinen Fakten, der Wahrnehmung, dass nicht alle fälligen Verbindlichkeiten bezahlt werden können, festzustellen. Dann sind die Plan-Zahlen zum Zeitpunkt 1 und anhand des Zahlungsplans für den Zeitraum bis zum Zeitpunkt 2 zu ermitteln, retrospektiv anhand der Ist-Zahlen der Buchhaltung.

Im Fall 3 ist das Unternehmen nicht zahlungsunfähig. Die Unterdeckung im Lauf des Monats 1 und im Zeitpunkt 1 ist im Zeitpunkt 2 bereits behoben.

Im Fall 4 gibt es eine Unterdeckung im Lauf des Monats 1, die aber dann am Ende dieses Monats, dem Zeitpunkt 1, nicht mehr vorliegt. Im Lauf des Monats 2 tritt die Unterdeckung wieder ein und bleibt bis zum Ende des Monats, hier ist dann der weitere Verlauf zum Zeitpunkt 1,5, wenn erkennbar, mindestens zum Zeitpunkt 2 (jeweils der neue Ausgangsstichtag) – prospektiv – für den Folgemonat mit den Plan-Zahlen zu ermitteln oder – retrospektiv – mit den dann vorhandenen Ist-Zahlen. Es können dann wieder die Verläufe der Fälle 1 bis 3, aber auch 4 eintreten. Die Prüfung beginnt dann erneut nach den genannten Schritten.

 

V. Zusammenfassung und Fazit

Die Zahlungsunfähigkeit ist der zentrale Anknüpfungspunkt für die Einleitung eines Insolvenzverfahrens. Das gilt einerseits für diesen Eröffnungsgrund selbst, über die Prüfung der Fortführungsprognose bei Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung auch für die anderen beiden Eröffnungsgründe. Die Fortführungsprognose ist eine Zahlungsfähigkeits-, keine Ertragsfähigkeitsprognose.[39] Dies kann auch der Begründung des Gesetzgebers zum SanInsFoG zur Anpassung der Eröffnungsgründe der drohenden Zahlungsunfähigkeit und der Überschuldung entnommen werden. Durch die Änderungen der §§ 18 und 19 InsO sollen die Überschneidungsbereiche reduziert werden,[40] was die Gleichheit des Tatbestandsmerkmals Fortführungsprognose voraussetzt.

Der Gesetzgeber hat die rechnerische Entwicklung der Zahlungsunfähigkeit nicht definiert, er nimmt die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners an, „wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen“.[41] Er hat bewusst auch auf die Beschreibung der erforderlichen Merkmale Dauer und Wesentlichkeit verzichtet.[42] Daher kann und muss der Begriff durch Rechtsprechung, Praxis und Wissenschaft ausgefüllt werden.

Bei der derzeitigen Rechtsanwendung wird die Zahlungsunfähigkeit nicht schlüssig und nicht klar ermittelt. Aufgrund der Kombination von Bestands- und Flussgrößen wird die wirtschaftliche Lage des Schuldners zu den Betrachtungszeitpunkten nicht nachvollziehbar abgebildet. Die Verwendung von relativen Größen lädt dazu ein, Verbindlichkeiten nicht zu bezahlen, um dadurch einen größeren Quotienten bei dem Vergleich der verfügbaren Mittel zu den fälligen Verbindlichkeiten zu erhalten. Die Betrachtungszeitpunkte korrelieren nicht mit dem Rhythmus der Buchhaltung, aus der die Ausgangsgrößen hergeleitet werden.

Im Vergleich dazu kann die Zahlungsunfähigkeit einfach und klar definiert werden: Gibt es eine absolute, keine relative Unterdeckung an drei aufeinanderfolgenden Stichtagen, die kongruent zu den Buchhaltungsvorschriften sind oder sich durch Ereignisse innerhalb dieser Zeiträume herauskristallisieren, dann liegt Zahlungsunfähigkeit vor. Wird sie anschließend beseitigt, so werden die Wirkungen einer späteren erneuten Zahlungsunfähigkeit nicht zurück verlagert[43].

Eine klare Definition und Ermittlung der rechnerischen Zahlungsunfähigkeit dient dem Geschäftsleiter eines Unternehmens, der bei Verletzung der Insolvenzantragspflicht extrem hohen Haftungsrisiken ausgesetzt ist. Sie dient dem Rechtsverkehr, weil erforderliche Insolvenzanträge rechtzeitig und früher gestellt werden und dadurch der Schaden bei den Geschäftspartnern verringert werden kann. Außerdem werden durch die einfache Ermittlung ggf. notwendige Haftungsprozesse nicht in die Länge gezogen, was der Entlastung der Rechtspflege dient.

 

 

Stand 22.06.2022

[1] RG 50, 39, 41.

[2] BGH v. 30.4.1992 – IX ZR 176/91; BGH v. 22.10.1990 – IX ZR 103/90; BGH v. 11.7.1991 – IX ZR 230/90.

[3] BGH v. 30.04.1959 – VIII ZR 179/58.

[4] Kuhn/Uhlenbruck KO, 11. Auflage 1994, §  102 Rz.  2a.

[5] 54. Deutscher Juristentag 1982, ZIP 1982, 1260.

[6] BGH v. 3.12.1998 – IX ZR 313/97; BGH v. 4.10.2001 – IX ZR 81/99.

[7] Begründung zu §§ 20, 21 RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 114.

[8] Begr RegE InsO BT-Drucks. 12/2443 S. 114.

[9] BGH Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04; BGH Urteil vom 12.10.2006 – IR ZR 228/03; BGH Urteil vom 19.12.2017 – II ZR 88/16.

[10] BGHZ 149,  100 [108].

[11] Begr RegE InsO BT-Drucks. 12/2443, S. 114.

[12] BGH Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04, II. 4.

[13] BGH Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04, II. 4. b).

[14] BGH Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04, II., 3. b) bb).

[15] BGH Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04, II. 1. c).

[16] BGH Urteil vom 12.10.2006 – IX ZR 228/03.

[17] BGH Urteil vom 12.10.2006 – IX ZR 228/03, III. 1. a).

[18] Dafür G. Fischer FS Ganter, 2010, 153 [158 f.]; als Kritiker u.a. Prager/Jungclaus FS Wellensiek, 2011, 91 [102 ff.].

[19] K. Schmidt InsO/Karsten Schmidt, 19. Aufl. 2016, InsO § 17 Rn. 27.

[20] BGH Urteil vom 19.12.2017 – II ZR 88/16.

[21] BGH Urteil vom 19.12.2017 – II ZR 88/16, II. 2. a).

[22] Bitter in Scholz, GmbHG, 12. Auflage 2021, Vorbemerkungen vor § 64 GmbHG, Rn. 29.

[23] vgl. Gutmann, NZI 2021, 473, 474.

[24] vgl. Ampferl/Kilper, NZI 2018, 191, 194 und Gutmann, a. a. O.

[25] In diesem Sinne jetzt ausdrücklich § 1 StaRUG.

[26] So auch Bitter in Scholz, GmbHG, 12. Auflage 2021, Vorbemerkungen Vor § 64, Rn. 29.

[27] Sozialversicherungsbeiträge, Arbeitsentgelte, Miet-, Leasing- und Finanzierungsverpflichtungen sowie Steuern.

[28] In der Regel der Kalendermonat, siehe § 18 Abs. 2 S. 2 UStG.

[29] Siehe hierzu auch Gutmann, NZI 2021, 473, 476.

[30] Hier sind dann dieselben Erwägungen anzustellen wie bei den beschriebenen Finanzplänen für alle Eröffnungsgründe, MükoInsO/Eilenberger, 4. Aufl. 2019, § 17 Rz. 14 und 25b, ebenso HmbKomm-InsO/Schröder, 9. Aufl. 2022, § 17 Rz. 29 und 30; Drukarczyk, Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, a. a. O., Rn. 30 ff. zu § 18.

[31] Bitter, ZIP 2021, 321, 336.

[32] BT-Drucks. 19/25353 vom 16.12.2020, dort S. 6.

[33] BT-Drucks. 19/25353, a. a. O.

[34] Siehe z. B. Drukarczyk in Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 4. Auflage 2019, § 18 Rn. 30 ff.

[35] Mock in Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 15. Auflage 2019, § 18 Rn. 20.

[36] Siehe z. B. bei DATEV, DATEV-Serviceinformation vom 04.09.2020, „OPOS: Fälligkeiten und Zahlungsbedingungen festlegen“.

[37] BMF-Schreiben betr. Grundsätze zur ordnungsmäßigen Führung und Aufbewahrung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form sowie zum Datenzugriff (GOBD) vom 28.11.2019 (BStBl. I S. 1269), dort die Rn. 85 und 79.

[38] Siehe Gutmann, NZI 2021, 474, 476 ff.

[39] Siehe statt vieler Drukarczyk/Schüler, Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 4. Auflage 2019, § 19 Rn. 69 ff.

[40] Siehe Begründung RegE SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, 197.

[41] § 17 Abs. 2. S. 1 InsO.

[42] BT-Drs. 12/2443, 114.

[43] Siehe auch BGH, Urteil vom 25.10.2001 – IX ZR 17/01, III. 2. b.  mit Verweis auf RGZ 100, 62, 65.

 

Aktuelle Impulse für ein Berufsrecht der Insolvenzverwalter, Sachwalter und Restrukturierungsbeauftragten

 

Der Beruf des Insolvenzverwalters, Sachwalters und Restrukturierungsbeauftragen überschreitet in vielerlei Hinsicht die Grenzen der anwaltlichen, steuerberatenden oder wirtschaftsprüfenden Tätigkeit. Spätestens seit Einführung der Insolvenzordnung hat sich ein multidisziplinäres Tätigkeitsfeld und damit auch ein eigener Beruf entwickelt. Dem hat das Bundesverfassungsgericht bereits 2004 (Beschluss vom 03.08.2004 – 1 BvR 135/00) Rechnung getragen. Die gesetzlichen Grundlagen für das Berufsrecht der Insolvenzverwalter, Sachwalter und Restrukturierungsbeauftragen sind trotz des eigenen Berufsbildes jedoch nur fragmentarisch und lückenhaft. Dies verunsichert nicht nur die betroffenen Berufsträger, sondern auch die Rechtsanwender auf Seiten der Justiz und die am Insolvenz- bzw. Restrukturierungsverfahren beteiligten Gläubiger. Gesetzliche Abhilfe ist insoweit dringend notwendig und wird von der EU auch gefordert. Dies gilt umso mehr, als Deutschland im europäischen Vergleich in diesem Punkt nicht nur deutlich hinter fast allen übrigen Mitgliedsstaaten zurückfällt, sondern sogar weit entfernt ist von den auf europäischer Ebene für die Ausübung des Verwalterberufs erarbeiteten Standards. Diese Einschätzung wird durch eine Reihe von aktuellen Gesetzesinitiativen, europäischen Vorgaben und höchstrichterlichen Entscheidungen nachdrücklich unterstrichen.

 

Europäische Standards

Innerhalb der europäischen Union können 22 der insgesamt 27 Mitgliedstaaten auf ein gesetzlich ausdifferenziertes Berufsrecht verweisen. Die nachfolgende Grafik veranschaulicht deutlich, dass Deutschland weit hinter der Entwicklung der meisten europäischen Mitgliedstaaten zurückfällt. Dies ist umso unverständlicher als die europäische Restrukturierungsrichtlinie (Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 – Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz, ABl. L 172/18 vom 26.6.2019) den Mitgliedstaaten einen Handlungsauftrag zur Verbesserung der berufsrechtlichen Rahmenbedingungen erteilt hat. Die Bundesregierung hat in der 19. Legislaturperiode diesen Teil der europäischen Restrukturierungsrichtlinie entgegen eigener Ankündigung im Koalitionsvertrag nicht umgesetzt.

Besonders deutlich wird aktuell das Zurückfallen hinter europäischen Standards durch die Empfehlungen der European Bank for Reconstruction and Development, kurz EBRD, die aktuell vom Mittelmeerraum bis nach Zentralasien über 30 Volkswirtschaften bei der ökonomischen Transformation fördert. In ihren am 1.7.2021 veröffentlichen „Principles for an Effective Professional and Regulatory Framework for Insolvency Office Holders“ wurden Mindeststandards für Insolvenzverwalter entwickelt und ausformuliert (Anlage 1), beginnend von der Ausbildung und Lizenzierung über die Berufsausübung bis hin zu Regelungen über den freiwilligen oder zwangsweisen Berufsausstieg. In Deutschland fehlen entsprechende gesetzliche Regelungen zu diesen zwölf Principles der EBRD nahezu gänzlich. Was die EBRD als “best practice“ weniger entwickelten Rechtsordnungen empfiehlt, sollte als deutliche Handlungsanweisung vom deutschen Gesetzgeber beachtet, wertgeschätzt und umgesetzt werden.

 

Initiative der Bundesländer vom 28.9.2021

Zehn Bundesländer haben sich auf Initiative der Staatssekretärin für Justiz des Landes Berlin, Frau Dr. Brückner, mit dem Führen sogenannter Vorauswahllisten für Insolvenzverwalterinnen und Insolvenzverwalter befasst und am 28.9.2021 einen ausführlichen Bericht veröffentlicht. Hierbei hat die Landesarbeitsgruppe auf Basis der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 3.8.2009 – 1 BvR 369/08, Rn. 10 ff.) konkrete Ansätze für eine bundeseinheitliche Vorauswahlliste entwickelt. Erfreulicherweise wurden dabei in vielen Teilen die Anregungen des Berufsverbandes der deutschen Insolvenzverwalter und Sachwalter, VID, und die durch die Gutachter Kästner und Amery ausgearbeiteten Vorschläge aufgegriffen.

Die Justizministerkonferenz hat in ihrer Herbstkonferenz am 11. und 12.11.2021 beschlossen (TOP I.6 – Anlage 2), eine entsprechende Bitte um Vorlage eines Gesetzesentwurfs an den Bundesgesetzgeber zu richten.

So begrüßenswert die dortige Anregung einer bundeseinheitlichen Vorauswahlliste vor allem im Interesse der Rechtsanwender auf Seiten der Justiz auch ist, so sehr stößt bereits der Bericht der Landesarbeitsgruppe bei der Frage der Ausbildung, der Beachtung von Berufsausübungsregeln, der verfahrensübergreifenden Aufsicht und vor allem dem verfassungskonformen Delisting an seine Grenzen.

Ohne die vorgenannten Themen konsequent in einer verfassungs- und europarechtskonformen Weise unter dem Dach einer beruflichen Selbstverwaltungsstruktur zu lösen, kann die Frage einer bundeseinheitlichen Vorauswahlliste nicht isoliert gesetzlich geregelt werden. Ganz im Gegenteil: der Bericht der Landesarbeitsgruppe verdeutlicht die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung, die umfassend und aufeinander abgestimmt alle zentralen Bereiche des Berufsrechts erfasst.

 

Höchstrichterliche Rechtsprechung

Bereits das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2004 (BVerfG, a.a.O.) aufgezeigt, dass der Beruf des Insolvenzverwalters Verfassungsrang genießt; für Sachwalter und Restrukturierungsbeauftragte als Funktionsträger weiter ausdifferenzierter moderner Sanierungsverfahren gilt nichts anderes. In einer Reihe weiterer Entscheidungen hat das BVerfG diese Feststellung wiederholt und aus ihr zusätzliche Maßgaben abgeleitet. Es ist dringend geboten, diesen verfassungsrechtlichen Schutz endlich auch gesetzlich zu konkretisieren. Dem hat der Bundesgesetzgeber bisher nicht entsprochen. In dieses Regelungsvakuum hat die höchstrichterliche Rechtsprechung in vielfältiger Weise eingegriffen und versucht, aus eigener Sichtweise das Berufsrecht bzw. die konkrete Ausübung des Berufes sowie dessen Vergütung zu regeln, nicht selten auch gegen den erkennbaren gesetzgeberischen Willen (BGH, Beschluss vom 22.7.2021 – IX ZB 4/21: Keine Mindestvergütung in Unternehmensinsolvenzverfahren). Schon allein in Bezug darauf wäre die Umsetzung eines Vergütungsgesetzes auf Basis des von unserem Berufsverband im Jahr 2014 ausformulierten Gesetzesvorschlags dringend angezeigt (Fundstelle Beilage 1 zu ZIP 28/2014).

Den vorläufigen Schlusspunkt setzt der BGH mit seiner Entscheidung vom 13.1.2022 (IX AR(VZ) 1/20) zu der Frage der Vorauswahllisten bei den Amtsgerichten Berlin-Charlottenburg und Hannover. Diese viel beachtete Entscheidung macht deutlich, dass gerade für die Rechtsanwender auf Seiten der Justiz, aber auch für die Berufsträger die Frage des Zugangs zum Beruf und auch die Auswahl im konkreten Fall sowie die Anforderung an ihre Tätigkeit im konkreten Verfahren nicht ansatzweise rechtssicher kodifiziert sind.

Naturgemäß richtet sich die höchstrichterliche Rechtsprechung immer aus am schlechten Fall und es gilt der Grundsatz „bad case makes bad law“. Dies entspricht aber nicht einem zukunftsorientierten und auf den Erhalt von Unternehmen und Unternehmensstrukturen gerichteten Insolvenz- und Sanierungsrecht. Auf diese Weise entsteht nur Stückwerk. Der Gesetzgeber darf daher die Gestaltung des beruflichen Umfelds einschließlich der Vergütung der Berufsträger nicht der höchstrichterlichen Rechtsprechung überlassen, weil dies nicht zu einem geschlossenen und praktikablen System führen kann.

Die Bundesregierung der 19. Legislaturperiode hatte den gesetzlichen Regelungsbedarf erkannt und dies nicht nur im Koalitionsvertrag (12.3.2018, Zeile 6195) erwähnt. Schon die damalige Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hatte die Schaffung eines Berufsrechts für Insolvenzverwalter und Sachwalter als sogenannte dritte Stufe der Insolvenzrechtsreform angekündigt. (Rede zur Eröffnung des 7. Deutschen Insolvenzrechtstages am 17.3.2010 – https://www.schuldnerhilfe-direkt.de/wp-content/uploads/2011/02/Schnarrenberger.pdf). Aufgrund der pandemischen Entwicklung ist es der letzten Bundesregierung nicht mehr gelungen, dies auch umzusetzen. Daher sollte der Bundesgesetzgeber jetzt daran anknüpfen, die vielfältigen Vorschläge und Ansätze – auch die unseres Berufsverbandes – aufgreifen und allgemein verbindliche Standards für alle in Deutschland tätigen Insolvenzverwalter, Sachwalter und Restrukturierungsbeauftragte entwickeln. Mit den Berufsgrundsätzen und den Grundsätzen ordnungsgemäßer Insolvenz- und Eigenverwaltung (GOI) liegt ein seit Jahren praxiserprobtes Regelwerk vor, dessen Inhalte der Gesetzgeber ohne weiteres übernehmen kann. Nur so ist aus Sicht der Berufsträger, der Justiz und vor allem der an Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren beteiligten Gläubiger und Schuldner gesichert, dass die von der EBRD entwickelten Grundsätze als Mindeststandards auch in Deutschland verwirklicht werden.

 

Fazit und Forderungen

Die elementaren Regelungslücken im Berufsrecht für Insolvenzverwalter, Sachwalter und Restrukturierungsbeauftrage einerseits, aber auch die europäischen Standards andererseits machen die Notwendigkeit einer umfassenden gesetzlichen Regelung des Berufsrechts mehr als deutlich. Dies gilt umso mehr, als in dem seit Jahren bestehenden Regelungsvakuum die höchstrichterliche Rechtsprechung Grundsätze entwickelt, die zum Teil keine Grundlage im gesetzgeberischen Willen erkennen lassen und für die Praxis der Rechtsanwender nur schwer umsetzbar sind. In jedem Fall bleibt ein so ausgestaltetes Berufsrecht weit hinter einer umfassenden und auf einer breiten parlamentarischen Diskussion angelegten, geschlossenen Regelungsstruktur zurück. Daher hält der VID gesetzliche Regelungen in den folgenden Bereichen für dringend notwendig:

  • Berufsausbildung auf Basis eines einschlägigen Hochschulstudiums und einer bis zu dreijährigen praktischen Tätigkeit bei einem zugelassenen Berufsträger
  • Zulassungsprüfung nach Abschluss der Berufsausbildung
  • Bundeseinheitliche Vorauswahlliste nach einheitlichen Kriterien
  • Berufsausübungsregelungen in Anlehnung an die bereits bestehenden Berufsgrundsätze und Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenz- und Eigenverwaltung, GOI
  • Vergütungsrecht, gesetzlich geregelt, mit transparenten und kalkulierbaren Regelungen
  • Mindeststandards zur Fortbildung, Büroausstattung, Versicherung, Information etc.
  • Verfassungskonforme Regelungen und Verfahren zum Delisting
  • Selbstverwaltende Berufsaufsicht über den konkreten Einzelfall hinaus

 

Für die Bundesregierung besteht nun die Möglichkeit die berufsrechtlichen Regelungslücken über ein umfassendes Regelwerk zu schließen und so die Rahmenbedingungen des komplexen Berufsbildes den europäischen Standards anzupassen. Bei einem weiteren Zuwarten bestünde die Gefahr, dass das deutsche Sanierungs- und Insolvenzrecht seine bisher im internationalen Vergleich hervorragende Position deutlich einbüßen könnte.

 

Berlin, den 17.02.2022

Kontakt:

Verband Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands e.V. (VID)
Französische Straße 13/14
10117 Berlin
Tel.: 030/ 20 45 55 25
E-Mail: info@vid.de
Web: www.vid.de