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Stellungnahme:
01.04.2025
Im Rahmen einer Evaluation der steuerlichen Haftungsbestimmungen hat der Bundesrechnungshof (BRH) auf mögliche Durchsetzungshindernisse im Zusammenhang mit der Anwendung des § 15b Abs. 8 InsO hingewiesen: den Finanzämtern sei es nicht möglich, den genauen Zeitpunkt des Eintritts der Insolvenzreife zu ermitteln, welche Voraussetzung für die Anwendung des § 15b Abs. 8 InsO ist. Ohne Kenntnis des Zeitpunkts der Insolvenzreife könnten Haftungsbescheide nach §§ 34, 69 AO gegen GeschäftsleiterInnen frühzeitig nicht durchgesetzt werden. Als Lösung regt der BRH an, den Finanzämtern in Zukunft die erforderlichen Informationen über den Zeitpunkt des Eintritts der Insolvenzreife in der Weise zur Verfügung zu stellen, dass vorläufige InsolvenzverwalterInnen oder externe GutachterInnen mit der zusätzlichen Feststellung des Zeitpunkts der Insolvenzreife beauftragt werden.
Der VID steht dieser Anregung kritisch gegenüber und nimmt dazu hier Stellung.
Am 16. Dezember 2020 hatte der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz der 19. Legislaturperiode den § 15b InsO[1] um einen neuen Absatz (Abs. 8) ergänzt. In der Begründung[2] wurde die zuvor bestehende Problematik erkannt, dass GeschäftsleiterInnen in der Praxis in einen Konflikt gerieten: Entweder verstießen sie gegen das Insolvenzrecht, indem sie selektiv Steuerverbindlichkeiten beglichen, oder sie verstießen gegen das Steuerrecht, indem sie fällige Steuern nicht abführten.
Um redliche GeschäftsführerInnen, die ihren Verpflichtungen aus § 15a InsO nachkommen, vor einer solchen steuerrechtlichen Zwangslage zu schützen, entschied sich der Gesetzgeber für eine Auflösung des Konflikts durch den neuen § 15b Abs. 8 InsO.
Die Regelung bestätigt GeschäftsleiterInnen darin, dass die Massesicherungspflicht Vorrang vor der Abführung von Abgaben hat. Diese insolvenzrechtliche Regelung geht auf vorherige Rechtsprechung auch des Bundesfinanzhofs zurück.[3] Der Vorrang der Massesicherungspflicht dient dazu, eine gleichmäßige Gläubigerbefriedigung sicherzustellen und eine einseitige Privilegierung einzelner Gläubiger – hier des Fiskus – zu verhindern.
Darüber hinaus sollte die Vorschrift eine bis dahin verbreitete Praxis in Verfahren der vorläufigen Eigenverwaltung entbehrlich machen: GeschäftsleiterInnen sahen sich zur Haftungsvermeidung gezwungen, auf Umgehungslösungen zurückzugreifen. Diese bestanden darin, die Finanzverwaltung zunächst über den Insolvenzantrag zu informieren, dann die Steuer zu begleichen und diese Zahlungen später nach Insolvenzeröffnung durch den/die SachwalterIn anfechten zu lassen. Dies führte jedoch zu unnötigen Liquiditätsbelastungen für die insolvente Gesellschaft, ohne dass der Fiskus langfristig einen Vorteil daraus zieht. Gut beratene GeschäftsführerInnen konnten sich haftungsfrei halten, während schlecht oder nicht Beratene in Haftungsfallen gerieten – ein Zustand, den der Gesetzgeber mit § 15b Abs. 8 InsO eigentlich beenden wollte.
Unberührt blieb jedoch die Haftung nach § 69 AO, wonach GeschäftsführerInnen für die bereits vor Eintritt der Insolvenzreife begangenen Pflichtverletzungen in Gestalt der Nichtzahlung von zu diesem Zeitpunkt schon fälligen Steuern haften. Ebenso haftungsbewehrt blieb die Nichtbegleichung derjenigen Steuerschulden, die im Zeitraum zwischen dem (fruchtlosen) Ablauf der Insolvenzantragsfrist und der (aufgrund eines später doch noch gestellten Antrags) Anordnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens fällig werden. Auch für pflichtwidrig vereitelte Insolvenzverfahren blieb eine Geschäftsleiterhaftung weiter vorgesehen.
Die vom BRH vorgeschlagene Ermittlungstätigkeit im Eröffnungsverfahren mag der Finanzverwaltung die Haftungsverfolgung erleichtern. Sie würde jedoch zu erheblichen Mehraufwendungen der GutachterInnen und zudem zu rechtlichen und praktischen Problemen führen. Die Ermittlungen von GutachterInnen und vorläufigen InsolvenzverwalterInnen dienen nicht ohne Grund in diesem frühen Verfahrensstadium nur der Feststellung des Vorliegens eines Insolvenzgrundes und der voraussichtlichen Deckung der Verfahrenskosten. Diesem Zweck dienen regelmäßig die gerichtlichen Gutachtenaufträge.
Weitergehende Ermittlungsaufträge werden in diesem frühen Verfahrensstadium in der Regel nicht erteilt, weil die Beantwortung allein dieser beiden Fragen ausreicht, die Entscheidung des Gerichts über den Insolvenzantrag vorzubereiten. Liegt kein Insolvenzgrund vor, erübrigt sich eine weitere Ermittlungstätigkeit. Sind die Verfahrenskosten voraussichtlich nicht gedeckt, ist eine Zurückweisung des Antrags mangels Masse angezeigt, die wiederum eine weitere Ermittlungstätigkeit durch das Gericht oder von ihm beauftragte Personen obsolet macht.
Werden die beiden Vorfragen bejaht, könnte ein Gutachter und vorläufiger Insolvenzverwalter nach der aktuellen Rechtslage nicht mit weiteren Ermittlungen beauftragt werden, weil sie vom Wortlaut des § 21 InsO nicht gedeckt sind.
Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 InsO hat das Insolvenzgericht alle Maßnahmen zu treffen, die erforderlich erscheinen, um bis zur Entscheidung über den Antrag eine den GläubigerInnen nachteilige Veränderung in der Vermögenslage des Schuldners zu vermeiden. Das gilt für alle – auch zu diesem Zeitpunkt oft noch nicht bekannte – GläubigerInnen. Einzelmaßnahmen zum Schutz bestimmter GläubigerInnen sind regelmäßig nicht vorgesehen. Der Gesetzgeber hat diesen Effekt gesehen und mit § 21 Abs. 2 Ziff. 2 InsO nur ein allgemeines Verfügungsverbot oder einen allgemeinen Zustimmungsvorbehalt zugelassen, um eine Bevorzugung einzelner GläubigerInnen auszuschließen.
Die vom BRH vorgeschlagenen Ermittlungen wären also nur dann geboten, wenn sie i. S. d. § 21 Abs. 1 Satz 1 InsO eine nachteilige Veränderung in der Vermögenslage des Schuldners vermeiden würden. Das ist jedoch ersichtlich nicht der Fall. Indirekt verschlechtern sie sogar möglicherweise die Aussichten, über eine Inanspruchnahme von antragspflichtigen Personen durch den Insolvenzverwalter die Masse für alle GläubigerInnen zu vergrößern.
Aus diesen Gründen verbietet sich auch eine Erweiterung der gerichtlichen Aufträge an GutachterInnen. Da in den Insolvenzgutachten regelmäßig nur die Entscheidung des Gerichts über Eröffnungsanträge vorbereitet werden soll, können solche Aufträge in diesem frühen Verfahrensstadium nicht für weitere Zwecke genutzt werden. Weitergehende Ermittlungen würden die Erstellung der Gutachten nicht nur wesentlich verzögern, sondern auch erheblich verteuern – bei unzureichendem Schuldnervermögen zu Lasten der Staatskasse. Käme diese Verteuerung und Verzögerung nur bestimmten GläubigerInnen zugute, ohne gleichzeitig auch für die übrigen GläubigerInnen im Sinne einer Massesicherung oder Massemehrung wirksam zu werden, ließe sie sich nicht aus dem gesetzlichen Ermittlungsauftrag in dieser Verfahrensphase herleiten. Zudem würde eine Verteuerung der Begutachtung die Verfahrenskosten und damit die Hürde für eine Verfahrenseröffnung erhöhen.
Die vom BRH vorgeschlagene Ermittlungstätigkeit soll den Fiskus in die Lage versetzen, Haftungsansprüche nach § 69 AO gegenüber antragspflichtigen Personen geltend zu machen. Diese Ansprüche konkurrieren mit Ansprüchen aus § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO, die InsolvenzverwalterInnen gegenüber antragspflichtigen Personen geltend machen können. Beide Ansprüche konkurrieren damit auch um dasselbe Haftungssubstrat. Eine Geltendmachung von Haftungsansprüchen gelingt dem Fiskus über einen Haftungsbescheid nach § 72 AO regelmäßig schneller als dem Insolvenzverwalter, der auf den Zivilrechtsweg angewiesen ist. Im Ergebnis würde eine erfolgreiche Ermittlungstätigkeit einen rechtlichen Vorteil des Fiskus zu Lasten aller anderen GläubigerInnen schaffen.
Eine erfolgreiche Ermittlungstätigkeit führte voraussichtlich nur in wenigen Fällen auch praktisch zu einem Vorteil des Fiskus.
Käme sie zu dem Ergebnis, dass die antragspflichtigen Personen ihren Verpflichtungen nach § 15a nachgekommen sind, wäre nach § 15b Abs. 8 Satz 1 InsO eine Verletzung steuerrechtlicher Zahlungspflichten ausgeschlossen, wenn zwischen dem Eintritt der Insolvenzreife nach § 17 oder § 19 InsO und der Entscheidung des Insolvenzgerichts über den Insolvenzantrag Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt werden.
Würde das Insolvenzverfahren nicht eröffnet und wäre dies auf eine Pflichtverletzung der Antragspflichtigen zurückzuführen, gelten nach § 15b Abs. 8 Satz 3 InsO die Sätze 1 und 2 nicht. Angesprochen sind hier die Fälle einer Abweisung mangels Masse, in denen die Masselosigkeit auf eine Pflichtverletzung der Antragspflichtigen zurückzuführen ist. Da die Masselosigkeit des Verfahrens bereits Gegenstand des Eröffnungsgutachtens ist, verbieten sich nach ihrer vorrangigen Feststellung weitere kostenträchtige Ermittlungen (s.o.). In solchen Fällen ist überdies zweifelhaft, ob die oftmals ebenfalls insolventen Antragspflichtigen überhaupt erfolgreich in Anspruch genommen werden könnten.
Im Fall des § 15b Abs. 8 Satz 2 InsO könnte eine verspätete Antragstellung so lange zu einer zeitweiligen Haftung der Antragspflichtigen führen, bis ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt oder eine vorläufige Eigenverwaltung angeordnet wird. In beiden Verfahrensvarianten werden die jeweiligen Anordnungen regelmäßig zeitgleich mit dem Gutachtenauftrag und in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Insolvenzantrag erfolgen. Es bleibt deshalb nur ein kurzer Zeitraum, in dem Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt werden. Ansprüche, die bereits vor Antragstellung entstanden waren und bis zu diesem Zeitpunkt nicht erfüllt wurden, bleiben hier außer Betracht, weil sie als Insolvenzforderungen nicht mehr gesondert erfüllt werden dürfen.
Schließlich stehen der Finanzverwaltung aufgrund der öffentlichen Bekanntmachungen und nicht zuletzt aufgrund des seit dem Jahr 2024 von InsolvenzverwalterInnen und SachwalterInnen obligatorisch vorzuhalten Gläubigerinformationssystems (GIS) alle erforderlichen Informationen über die Daten der Insolvenzeröffnung, der Ernennung eines vorläufigen Insolvenzverwalters und des Insolvenzantrages zur Verfügung. Sie können anhand dessen unschwer in dem Zeitraum zwischen Insolvenzantrag und Ernennung eines vorläufigen Insolvenzverwalters bzw. Eröffnung des Insolvenzverfahrens fällig werdende Steueransprüche bei einer Haftung nach § 69 AO „aussortieren“ und einen Haftungsbescheid im Sinne einer erleichterten und zügigen Durchsetzung als risikoträchtige Positionen „bereinigen“. Die Praxis von InsolvenzverwalterInnen und SachwalterInnen zeigt jedenfalls, dass die Verwirklichung der Organhaftung bezüglich gezahlter Rückstände in diesem kurzen Zeitraum nahezu keinerlei Rolle spielt.
Im Ergebnis stehen neben den rechtlichen Gründen auch diese praktischen Erwägungen einer Ermittlungspflicht entgegen, die mit großem, häufig von der Staatskasse zu tragendem Aufwand wenig greifbare Ergebnisse für den Fiskus liefern würde.
Die Vorschläge des BRH zur verpflichtenden Prüfung der Insolvenzreife durch Finanzämter sind nicht nur insolvenzrechtlich fragwürdig, sondern auch praktisch wenig sinnvoll. Sie würden eine einseitige Bevorzugung der Finanzverwaltung bedeuten, ohne eine ausgewogene Lösung für alle Gläubigergruppen zu schaffen. Zudem bleiben essenzielle Fragen zur Finanzierung und zu den praktischen Auswirkungen auf die Insolvenzverfahren unbeantwortet.
Berlin, 01.04.2025
Kontakt:
Verband Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands e.V. (VID)
Am Zirkus 3
10117 Berlin
Tel.: 030/ 20 45 55 25
E-Mail: info@vid.de / Web: www.vid.de
[1] Implementiert durch das Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz (SanInsFoG).
[2] Deutscher Bundestag, Drucksache 19/25353, 19. Wahlperiode, Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss), S. 11 ff, abrufbar unter: Drucksache 19/25353 (zuletzt gesehen am 26.03.2025).
[3] Vgl. BFH, Urteil vom 22. Oktober 2019 – VII R 30/18, NZI 2020, 585.