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Stellungnahme:

10.05.2024

Evaluation des Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens

Stellungnahme des VID – Verbandes Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands e.V. zur Evaluation des Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht

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I. Einleitung

Mit dem Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht vom 22. Dezember 2020 (BGBl. I 2020,3328ff.) wurden eine Reihe von wichtigen Änderungen der Insolvenzordnung und insolvenzbezogener Nebengesetze umgesetzt.

Für Verbraucherinnen und Verbraucher wurde die Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens nicht – wie zunächst vorgesehen – befristet. Die Entscheidung über ggfl. notwendige weitere gesetzgeberische Maßnahmen soll nach Art. 107a EGInsO aber auf Grundlage eines von der Bundesregierung bis zum 30. Juni 2024 zu erstattenden Berichts über etwaige Auswirkungen der Verfahrensverkürzung auf das Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern erfolgen. Der Bericht soll auch auf etwaige Hindernisse eingehen, die von den bestehenden Möglichkeiten der Speicherung insolvenzbezogener Informationen durch Auskunfteien für einen wirtschaftlichen Neustart nach Erteilung der Restschuldbefreiung ausgehen.

Mit Schreiben vom 27. März 2024 hat das BMJ insolvenznahe Verbände um die Beantwortung der Frage gebeten, ob sich bei der Entwicklung des Insolvenzgeschehens seit dem 1. Oktober 2020 aus ihrer Sicht Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen der verkürzten Verfahrensdauer und dem Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern entnehmen lassen. Sollten solche Anhaltspunkte bestehen, wurde um eine qualitative und möglichst auch quantitative Darstellung der Entwicklungen sowie um eine Benennung der Faktoren gebeten, welche die Entwicklungen mit der verkürzten Verfahrensdauer in Verbindung bringen.

Die sehr umfassend formulierte Frage nach dem Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern nach Verkürzung der Verfahrensdauer legt zunächst einen Blick in die amtliche Insolvenzstatistik nahe. Danach wurde im Jahr 2021 mit 78.615 Verbraucherinsolvenzverfahren zunächst ein deutlicher Anstieg der Verfahrenszahlen gegenüber dem Jahr 2020 (40.502) verzeichnet. Dieser Anstieg war eindeutig auf eine zuvor verzögerte Antragstellung in Erwartung der früh angekündigten Verkürzung zurückzuführen. Im Folgejahr 2022 (65.487) stiegen die Verfahrenszahlen nicht weiter an, sondern fielen auf eine Zahl zurück, die unter dem Durchschnitt des vorangegangenen Jahrzehnts lag. 2023 (66.887) wurde nur ein leichter Anstieg der Verfahrenszahlen verzeichnet.

Es fällt somit auf, dass die erhebliche Verkürzung der Verfahrensdauer nicht zu einer deutlichen Zunahme der Verbraucherinsolvenzverfahren geführt hat.

Nach Zahlen von Creditreform hat sich die Anzahl der überschuldeten Privatpersonen in Deutschland zwischen 2020 (6,85 Mio.) und 2023 (5,65 Mio.) deutlich reduziert[1]. Dieser Rückgang ist mit Sicherheit ein wesentlicher Faktor für die Abnahme der Verbraucherinsolvenzen. Noch immer ist es aber ein verhältnismäßig kleiner Anteil der überschuldeten Verbraucherinnen und Verbraucher, die jedes Jahr den Ausweg eines Verbraucherinsolvenzverfahrens suchen. Trotz einer gewissen Steigerung in 2024 (im Januar 2024 lag die Zahl der beantragten Verbraucherinsolvenzen 6,3% höher als im Vergleichsmonat des Vorjahres[2]) lässt sich ein signifikanter Effekt der verkürzten Verfahrensdauer bis heute nicht feststellen.

Die Frage, ob diese Stagnation auf Kapazitätsengpässe bei Schuldnerberatungen zurückzuführen ist, liegt nahe, kann durch den VID aber nicht beantwortet werden. Die im Jahrzehnt vor 2020 (ohne verkürzte Verfahrensdauer) teilweise deutlich höheren Verfahrenszahlen deuten jedoch darauf hin, dass hier nicht der einzige Grund für die geschilderte Entwicklung zu suchen ist.

Die nachfolgende Stellungnahme greift deshalb einige ausgewählte Probleme auf, die aus Sicht der Praxis bis heute das Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern maßgeblich beeinflussen.

 

II. Mangelnde oder schwer verständliche Informationen

Zum wesentlichen Inhalt des Gesetzentwurfs hatte seine Begründung (BT Drs. 19/21981, S.15) formuliert:

„Die Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens wird von sechs auf drei Jahre reduziert. Auf die Erfüllung besonderer Voraussetzungen wie die Deckung der Verfahrenskosten oder die Erfüllung von Mindestbefriedigungsanforderungen wird verzichtet. Diese Erleichterungen werden nicht nur für unternehmerisch tätige, sondern alle natürlichen Personen geschaffen. Insbesondere erhalten damit auch Verbraucherinnen und Verbraucher die realistische Möglichkeit, eine Restschuldbefreiung binnen drei Jahren zu erlangen.“

Diese, im Vergleich zu den bis dahin geltenden oder als Alternative diskutierten Maßgaben, radikale Vereinfachung der rechtlichen Voraussetzungen für eine Restschuldbefreiung führte zunächst zu einem Verzögerungseffekt, der aber offensichtlich auf diejenigen Schuldnerinnen und Schuldner begrenzt blieb, die bereits beraten wurden. Ein weitergehender Mobilisierungseffekt auch bei den bislang zögernden Schuldnerinnen und Schuldnern ist nicht eingetreten. Schuldnerberater berichten, dass die Dimension der Reform bis heute den beratenen Schuldnerinnen und Schuldnern oft nicht bekannt ist.

Trotz der umfangreichen Informationsmöglichkeiten, die im Internet u.a. auf den Webseiten von Landes- und Bundesministerien zum Thema Verbraucherinsolvenz verfügbar sind, bewegen sich die Verfahrenszahlen auf einem Niveau, das weit unter den Höchstwerten der Jahre 2005-2015 liegt.

Dieser Befund deutet an, dass die verfügbaren Informationen mit ihrer Aufbereitung und Darstellung einen Großteil der betroffenen Schuldnerinnen und Schuldner nicht erreichen.

 

III. Mangelnde Verfahrensvereinfachung, fehlende Beratungshilfe und geringe Digitalisierung von Verfahren

Weitaus schwerer wiegt jedoch das rein analoge und bürokratische Antragsverfahren. Das Verbraucherinsolvenzverfahren wird zu Recht als schwierig und unzugänglich wahrgenommen. Wirft man einen Blick auf die entsprechenden Formulare nach den Maßgaben der Verbraucherinsolvenzformularverordnung (VbrinsFV), findet man eine Fülle juristischer Fachbegriffe, die für den juristischen Laien ohne Erklärungen unverständlich bleiben. Das auf der Webseite des BMJ abrufbare Formular (Stand 26.April 2021) umfasst insgesamt 45 Seiten.

In den amtlichen Hinweisen zur Ausfüllung des vom BMJ bereitgestellten Formulars[3] findet sich folgender Hinweis („Allgemeine Hinweise“):

„Die Formulare für das Verbraucherinsolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren können Sie mit dem Computer, mit der Schreibmaschine oder handschriftlich – bitte in lesbarer Druckschrift – ausfüllen. Da es sich um amtliche Formulare handelt, sind inhaltliche oder gestalterische Änderungen oder Ergänzungen nicht zulässig. Sollte der Raum im Formular nicht ausreichen, können Sie die Angaben auf einem besonderen Blatt machen.

In dem betreffenden Feld des Formulars ist dann auf das beigefügte Blatt hinzuweisen.

Die vollständig ausgefüllten Formulare sind zunächst ohne Abschriften (Kopien) bei dem zuständigen Insolvenzgericht einzureichen. Wenn das Insolvenzgericht die Durchführung des gerichtlichen Schuldenbereinigungsplanverfahrens … anordnet, werden Sie gesondert aufgefordert, Abschriften des gerichtlichen Schuldenbereinigungsplans (Anlage 7, Anlage 7 A und Anlage 7 B) und der Vermögensübersicht (Anlage 4) in der für die Zustellung an die Gläubiger erforderlichen Anzahl nachzureichen. Stellen Sie deshalb unbedingt sicher, dass Sie eine vollständige, inhaltsgleiche Kopie der an das Gericht übersandten Antragsunterlagen bei Ihren Verfahrensunterlagen behalten.“

Schon dieser allgemeine Hinweis macht deutlich, dass der strenge Formularzwang für viele Betroffene nicht ohne Beratung zu bewältigen ist. Die Hinweise zur Ausfüllung des Formulars umfassen insgesamt 12 Seiten. Da eine Hilfe bei der Ausfüllung des Formulars in den meisten Fällen notwendig sein wird, müsste sie als Angebot für alle betroffenen Schuldnerinnen und Schuldner gesetzlich verankert und finanziert werden.

Das ebenfalls vom BMJ online bereitgestellte Antragsformular auf Bewilligung von Beratungshilfe[4] umfasst 10 Seiten und verlangt eine umfassende Offenlegung der eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse. Gerade dieser Überblick wird für viele betroffene Schuldnerinnen und Schuldnern, die ihn oft selbst verloren haben, nicht darstellbar sein. Aus der Praxis wird berichtet, dass die Bereitschaft zur Vergabe von Beratungsscheinen in der Privatinsolvenz bei den Gerichten deutlich zurückgegangen ist.

Staatlich anerkannte Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen sind zwar in den meisten Fällen kostenlos und oft sogar online erreichbar. Ihre personelle und sachliche Ausstattung ist jedoch vom jeweiligen Träger abhängig und bleibt deshalb oft unter dem Umfang, der für eine zeitnahe und umfassende Beratung notwendig wäre. Schwankungen im Verfahrensaufkommen führen hier häufig auch zu Budgetveränderungen.

Es bleibt festzuhalten, dass eine verstärkte Inanspruchnahme der Restschuldbefreiung in Deutschland eine Verstetigung und Vereinfachung der Beratungshilfen für betroffene Schuldnerinnen und Schuldner voraussetzen würde.

Bei der Digitalisierung von Insolvenzverfahren ist Deutschland im Vergleich zu einigen europäischen Nachbarländern deutlich zurückgefallen. Im Nachbarland Belgien, das seit 2017 mit dem System RegSol arbeitet, sind eine digitale Verfahrenseinleitung und Verfahrensverfolgung in Verbraucherinsolvenzverfahren[5] bereits seit dem 2. November 2023 gelebte Realität. Neben online-Hilfsangeboten wird dort auch durch online-Videos und direkte Kontaktmöglichkeiten eine Fülle von Unterstützung auf einer leicht zugänglichen und zentralen Webseite angeboten. Dies hat nach Berichten aus der Praxis zu unerwartet hohen Antragszahlen geführt[6].

Ergänzend könnte auch eine Verlagerung von verfahrensimanenten Aufgaben auf Insolvenzverwalter zur Entlastung der Gerichte und zur Vermeidung paralleler und damit unproduktiver Tätigkeiten beitragen.

Dabei sollte die Funktion des Gerichts auf die Aufsicht, nicht aber auf die parallele Aktenführung und Aktenbearbeitung fokussiert werden. Hier sollte man über folgende gesetzliche Veränderungen nachdenken:

  • Übernahme der gesamten Tabellenführung und Feststellung/Erteilung eines Tabellenauszugs durch den Insolvenzverwalter
  • Information über Tabellenwiderspruch (§179 Abs.3 InsO) durch den Insolvenzverwalter
  • Statt Niederlegung in der Geschäftsstelle (§154 InsO, §188 InsO) – Onlineportal für die Verzeichnisse beim Verwalter
  • Rechtsmittelfähige Entscheidung über die Massezugehörigkeit von Vermögensgegenständen (§36 Abs. 4 InsO) durch den Insolvenzverwalter (vgl. auch Art. 48 des Richtlinienvorschlags COM (2022) 702 final)

Nach Prüfung der Zulässigkeit des Antrags durch das Insolvenzgericht und Bestellung eines Insolvenzverwalters könnte dieser ab seiner Beauftragung so die umfassende Betreuung des Verfahrens einschließlich Tabellenführung, Korrespondenz mit den Gläubigern und Verwertung der Insolvenzmasse etc. übernehmen.

Eine Hinzuziehung des Gerichtes wäre nur mehr bei Pfändungsschutzanträgen, Versagungsanträgen der Restschuldbefreiung etc. notwendig. Ein Bericht an das Insolvenzgericht würde erst mit dem Schlussbericht und der Schlussrechnung erfolgen.

Ein transparenteres Verfahren für die beteiligten Gläubiger könnte durch den uneingeschränkten Einsatz eines Gläubigerinformationssystems nach dem bereits erwähnten belgischen Vorbild geschaffen werden. Dies könnte öffentliche Bekanntmachungen direkt durch den Insolvenzverwalter (z. B. bei einer Freigabe nach §35 Abs.2 InsO) einschließen. Eine ausschließlich digitale Antragstellung, eine einheitliche Software bzw. Schnittstelle für Schuldnerberater und die automatisierte elektronische Weiterverarbeitung der Daten, insbesondere mit dem Einsatz des bereits eingeführten Datenformats Xrechnung würden die Möglichkeiten der Digitalisierung ausschöpfen und gerade im Bereich von Verbraucherinsolvenzverfahren eine spürbare Verfahrensvereinfachung herbeiführen.

 

IV. Tendenz zur (gesetzlichen) Aushöhlung der Restschuldbefreiung

In Artikel 23 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz vom 20. Juni 2019[7] wird der Gestaltungsspielraum der EU-Mitgliedstaaten für gesetzliche Ausnahmen von einer Restschuldbefreiung beschrieben:

Ausnahmeregelungen

(1) Abweichend von den Artikeln 20 bis 22 behalten die Mitgliedstaaten Bestimmungen bei oder führen Bestimmungen ein, mit denen der Zugang zur Entschuldung verwehrt oder beschränkt wird, die Vorteile der Entschuldung widerrufen werden oder längere Fristen für eine volle Entschuldung beziehungsweise längere Verbotsfristen vorgesehen werden, wenn der insolvente Unternehmer bei seiner Verschuldung — während des Insolvenzverfahrens oder während der Begleichung der Schulden — gegenüber den Gläubigern oder sonstigen Interessenträgern unredlich oder bösgläubig im Sinne der nationalen Rechtsvorschriften gehandelt hat, unbeschadet der nationalen Vorschriften zur Beweislast.

(2) Abweichend von den Artikeln 20 bis 22 können die Mitgliedstaaten Bestimmungen beibehalten oder einführen, mit denen unter bestimmten genau festgelegten Umständen der Zugang zur Entschuldung verwehrt oder beschränkt wird, die Entschuldung widerrufen wird oder längere Fristen für eine volle Entschuldung beziehungsweise längere Verbotsfristen vorgesehen werden, wenn solche Ausnahmeregelungen ausreichend gerechtfertigt sind, etwa wenn:

  1. a) der insolvente Unternehmer gegen im Tilgungsplan vorgesehene Verpflichtungen oder gegen eine andere rechtliche Verpflichtung zum Schutz der Interessen der Gläubiger, einschließlich der Verpflichtung, die Gläubiger bestmöglich zu befriedigen, in erheblichem Maße verstoßen hat,
  2. b) der insolvente Unternehmer den Informationspflichten oder Verpflichtungen zur Zusammenarbeit gemäß dem Unionsrecht und den nationalen Rechtsvorschriften nicht nachgekommen ist,
  3. c) Entschuldungsverfahren missbräuchlich beantragt werden,
  4. d) innerhalb eines bestimmten Zeitraums, nachdem dem insolventen Unternehmer eine volle Entschuldung gewährt oder aufgrund eines schweren Verstoßes gegen die Informationspflichten oder die Verpflichtungen zur Zusammenarbeit verweigert worden ist, eine weitere Entschuldung beantragt wird,
  5. e) die Kosten des zur Entschuldung führenden Verfahrens nicht gedeckt sind oder
  6. f) eine Ausnahmeregelung erforderlich ist, um einen Ausgleich zwischen den Rechten des Schuldners und den Rechten eines oder mehrerer Gläubiger zu gewährleisten.

(3) Abweichend von Artikel 21 können die Mitgliedstaaten längere Entschuldungsfristen für den Fall festlegen, dass

  1. a) eine Justiz- oder Verwaltungsbehörde Schutzmaßnahmen billigt oder anordnet, um die Hauptwohnung des insolventen Unternehmers und gegebenenfalls der Familie des Unternehmers oder die für die Fortsetzung der gewerblichen, geschäftlichen, handwerklichen oder freiberuflichen Tätigkeit des Unternehmers unverzichtbaren Vermögenswerte zu schützen, oder
  2. b) die Hauptwohnung des insolventen Unternehmers und gegebenenfalls seiner Familie nicht verwertet wird.

(4) Die Mitgliedstaaten können bestimmte Schuldenkategorien von der Entschuldung ausschließen, den Zugang zur Entschuldung beschränken oder eine längere Entschuldungsfrist festlegen, wenn solche Ausschlüsse, Beschränkungen oder längeren Fristen ausreichend gerechtfertigt sind, etwa im Falle von

  1. a) besicherten Schulden,
  2. b) aus strafrechtlichen Sanktionen entstandenen oder damit in Verbindung stehenden Schulden,
  3. c) aus deliktischer Haftung entstandenen Schulden,
  4. d) Schulden bezüglich Unterhaltspflichten, die auf einem Familien-, Verwandtschafts- oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen,
  5. e) Schulden, die nach dem Antrag auf ein zu einer Entschuldung führendes Verfahren oder nach dessen Eröffnung entstanden sind, und
  6. f) Schulden, die aus der Verpflichtung, die Kosten des zur Entschuldung führenden Verfahrens zu begleichen, entstanden sind.

(5) Abweichend von Artikel 22 können die Mitgliedstaaten längere oder unbestimmte Verbotsfristen festlegen, wenn der insolvente Unternehmer einem Berufsstand angehört:

  1. a) für den besondere ethische Regeln oder besondere Regeln bezüglich der Reputation oder der Sachkunde gelten, und der Unternehmer gegen diese Regeln verstoßen hat, oder
  2. b) der sich mit der Verwaltung des Eigentums Dritter befasst.

Unterabsatz 1 gilt auch wenn ein insolventer Unternehmer beantragt, sich einem in Unterabsatz 1 Buchstabe a oder b genannten Berufsstand anzuschließen.

(6) Die vorliegende Richtlinie berührt nicht die nationalen Vorschriften zu anderen als den in Artikel 22 genannten Tätigkeitsverboten, die von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde angeordnet werden.

Bereits vor dieser umfangreichen Aufzählung hatte der deutsche Gesetzgeber eine seit Einführung der Insolvenzordnung mehrfach erweiterte Reihe von Ausnahmen geschaffen.

In ihrer ursprünglichen Fassung war die Ausnahmevorschrift des § 302 InsO noch knapp gehalten:

Von der Erteilung der Restschuldbefreiung werden nicht berührt:

1.Verbindlichkeiten des Schuldners aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung;

2.Geldstrafen und die diesen in § 39 Abs.1 Nr.3 gleichgestellten Verbindlichkeiten des Schuldners.

Demgegenüber lautet die aktuelle Fassung:

Von der Erteilung der Restschuldbefreiung werden nicht berührt:

1.Verbindlichkeiten des Schuldners aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung, aus rückständigem gesetzlichen Unterhalt, den der Schuldner vorsätzlich pflichtwidrig nicht gewährt hat, oder aus einem Steuerschuldverhältnis, sofern der Schuldner im Zusammenhang damit wegen einer Steuerstraftat nach den §§ 370, 373 oder § 374 der Abgabenordnung rechtskräftig verurteilt worden ist; der Gläubiger hat die entsprechende Forderung unter Angabe dieses Rechtsgrundes nach § 174 Absatz 2 anzumelden;

2.Geldstrafen und die diesen in § 39 Abs. 1 Nr. 3 gleichgestellten Verbindlichkeiten des Schuldners;

3.Verbindlichkeiten aus zinslosen Darlehen, die dem Schuldner zur Begleichung der Kosten des Insolvenzverfahrens gewährt wurden.

In der schriftlichen Stellungnahme des VID-Vorsitzenden Dr. Niering in der Anhörung des Deutschen Bundestages vom 30.9.2020[8] wurde zu dieser Entwicklung ausgeführt:

„3.5. Echte Restschuldbefreiung – keine Fiskusprivilegien

Die jüngere Rechtsprechung zugunsten von Fiskus und Sozialkassen stellt den Wert der Restschuldbefreiung des Schuldners und damit auch den Verfahrenszweck überhaupt in Frage. So entschied der BFH mit Urteil vom 28.11.2017, dass Masseverbindlichkeiten weder von einer Restschuldbefreiung erfasst werden, noch der Verrechnung eine aus dem Insolvenzverfahren resultierende Haftungsbeschränkung entgegenstehe. In einem anderen Fall entschied das Bayerische Landessozialgericht unter Berufung auf das BSG, dass die Verrechnung offener, vor Insolvenzeröffnung entstandener Beitragsforderungen mit aktuellen Rentenansprüchen des Schuldners auch nach Erteilung der Restschuldbefreiung zulässig ist.

Zudem ist in Frage zu stellen, ob gem. § 302 Ziffer 1 InsO qualifizierte Verbindlichkeiten aus einem Steuerschuldverhältnis grundsätzlich von der Restschuldbefreiung ausgenommen werden sollten. Gerade auf der Ebene der selbständigen Unternehmen wird damit gescheiterten Unternehmern ein wirtschaftlicher Neuanfang oft unmöglich gemacht, da diese zeitlich unbefristet für diese Steuerschulden haften. Ein Restschuldbefreiungsverfahren ist daher oftmals für diese Betroffenen sinnlos.“

An gleicher Stelle findet sich im Anschluss folgender Lösungsvorschlag:

„Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte die in der Literatur bereits diskutierte Regelung aufgenommen werden, wonach auch Steuerschulden im Rang einer Masseverbindlichkeit oder ein Anspruch gegen das insolvenzfreie Vermögen, der aus der Freigabe eines belasteten Vermögensgegenstandes resultiert, in die Restschuldbefreiung einbezogen werden. Auch sollte hinsichtlich einer Steuerverbindlichkeit im Rang einer Masseverbindlichkeit, die wegen einer Masseunzulänglichkeit nicht getilgt wird, § 69 AO keine Anwendung finden. Zudem sollte über die Privilegierung der von der Restschuldbefreiung ausgenommenen Verbindlichkeiten aus einem Steuerschuldverhältnis nochmals nachgedacht werden.“

Diesem Befund ist aus heutiger Sicht wenig hinzuzufügen. Die Rechtsprechung hat seither ihre o.g. Tendenz fortgesetzt.

Mit Urteil vom 1. Oktober 2020 (IX ZR 199/19) hatte der BGH entschieden, dass eine Verbindlichkeit aus einem Steuerschuldverhältnis auch dann von der Restschuldbefreiung ausgenommen ist, wenn die Eintragung über die Verurteilung wegen einer Steuerstraftat nach §§ 370, 373 oder § 374 AO, welche im Zusammenhang mit dem Steuerschuldverhältnis steht, im Bundeszentralregister getilgt worden oder zu tilgen ist. Zudem sollen Säumniszuschläge und Zinsforderungen als steuerliche Nebenleistungen an der Privilegierung der Hauptforderung teilnehmen.

Der BGH erkennt dabei zwar die Problematik einer Aushöhlung der Restschuldbefreiung (a.a.O. Rz.19):

„Allerdings kann das nur durch die Vorschriften der Verjährung (§§ 169 ff, 228 ff AO) zeitlich beschränkte insolvenzrechtliche Nachforderungsrecht aus § 302 Nr. 1 Fall 3 InsO im Einzelfall zu Härten führen. Der Schuldner ist Steuerforderungen ausgesetzt, welche er im Laufe seines Lebens aus eigener Kraft möglicherweise nicht wird begleichen können. Die angestrebte Restschuldbefreiung ist für ihn nutzlos, wenn die Beklagte, wie in der Revisionsinstanz vorgetragen, die einzige Insolvenzgläubigerin ist, deren Steuerforderungen aber von der Restschuldbefreiung nach § 302 Nr. 1 InsO nicht umfasst sind. Zu einer solchen Konstellation kann es aber nicht nur bei den hier streitgegenständlichen Steuerforderungen, sondern auch bei den übrigen ausgenommenen Forderungen nach § 302 Nr. 1 Fall 1 und 2 InsO kommen. In all diesen Fällen besteht die Möglichkeit, dass der Schuldner von wesentlichen Schulden nicht befreit wird und Zeit seines Lebens – in den Grenzen der Verjährung nach §§ 194 ff BGB – der Inanspruchnahme durch seine Gläubiger ausgesetzt ist. Damit wird in diesen Fällen das Ziel der Restschuldbefreiung nicht erreicht, dem Schuldner einen wirtschaftlichen Neubeginn zu ermöglichen (vgl. BGH, Urteil vom 25. Juni 2015 – IX ZR 199/14, NJW 2015, 3029 Rn. 9 mwN).“

Er sieht sich aber aus rechtlichen Gründen daran gehindert, hier zugunsten der betroffenen Schuldnerinnen und Schuldner zu entscheiden (a.a.O. Rz.22):

„Rechtspolitisch mag die Ausweitung der privilegierten Forderungen angreifbar sein. Sie schränkt die Gläubigergleichbehandlung ein und entwertet die Restschuldbefreiung für bestimmte Schuldner. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 GG folgt daraus jedoch nicht.“

In einer jüngeren Entscheidung vom 21. März 2024 (IX ZB 56/22) betont der BGH die Möglichkeit, sogar nach Erteilung der Restschuldbefreiung noch eine ausgenommene Forderung gerichtlich feststellen zu lassen (a.a.O. Rz.26 f.):

„Die Antragsgegnerin hat auch nach der rechtskräftigen Erteilung der Restschuldbefreiung an der Feststellung der Forderung sowie des Deliktsgrunds ein Rechtsschutzinteresse. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dauert das Feststellungsinteresse des Gläubigers nach Beendigung des Insolvenzverfahrens fort. Es kann nicht im Wege der Rechtsfortbildung an die Einhaltung einer bestimmten Klage- oder Ausschlussfrist gekoppelt werden (BGH, Urteil vom 18. Dezember 2008 – IX ZR 124/08, WM 2009, 313 Rn. 9).

Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerdeerwiderung kann das Rechtsschutzbedürfnis auch nicht nach der rechtskräftigen Erteilung der Restschuldbefreiung verneint werden. Wie der Senat bereits ausgeführt hat, kann es der Gläubiger für sinnvoll erachten, mit der Erhebung einer Feststellungsklage zuzuwarten, etwa bis sich herausstellt, ob dem Schuldner die erstrebte Restschuldbefreiung zu versagen ist oder ob der Schuldner sich in der Wohlverhaltensphase wirtschaftlich erholt, so dass anschließende Vollstreckungsversuche aussichtsreich erscheinen. Es besteht auch nach der Erteilung der Restschuldbefreiung kein Anlass, dem Gläubiger von Gesetzes wegen ein solches Zuwarten abzuschneiden, zumal er trotz erfolgreicher Feststellung des Anspruchsgrunds das beträchtliche Risiko trägt, die Erstattung seiner Prozesskosten vom Schuldner nicht erlangen zu können (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 2008 – IX ZR 124/08, WM 2009, 313 Rn. 12). Es besteht auch im Interesse des Schuldners kein Bedürfnis, die Möglichkeit des Gläubigers auf ein Zuwarten einzuschränken. Der Schuldner hat die Möglichkeit, eine negative Feststellungsklage zu erheben und damit die Unklarheit hinsichtlich des Umfangs der Restschuldbefreiung zu beseitigen (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 2008, aaO).“

Im entschiedenen Fall war um die Ausnahme von Trennungsunterhalt gestritten worden. Dieser Umstand weist auf die praktische Bedeutung der Ausnahmetatbestände des § 302 InsO hin. Arbeitslosigkeit, Krankheit und Scheidung sind bis heute die häufigsten Auslöser privater Überschuldung[9]. Ihre persönliche und wirtschaftliche Bewältigung gehört deshalb zu den Grundvoraussetzungen einer wirkungsvollen Entschuldung. Wird eine wirtschaftliche Entschuldung wegen rechtlicher Unsicherheitsfaktoren in Frage gestellt, wirkt sich dies unmittelbar auf die Bereitschaft betroffener Schuldnerinnen und Schuldner aus, ein notwendiges und mühevolles Restschuldbefreiungsverfahren auf sich zu nehmen.

Im Fall hoher ausgenommener Forderungen hat der BGH (IX ZB 39/19 vom 13. Februar 2020) sogar bereits eine Verfahrenskostenstundung und damit den für viele Schuldnerinnen und Schuldner einzig möglichen Zugang zum Restschuldbefreiungsverfahren ausgeschlossen.

 

V. Fazit

Der mit der Evaluation gebotene Blick auf einen Zusammenhang zwischen der verkürzten Verfahrensdauer und dem Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern macht deutlich, dass die Verkürzung nicht zu dem erwarteten Anstieg der Verfahrenszahlen geführt hat. Das Antragsverhalten hat sich kaum verändert.

Die Gründe hierfür dürften nicht nur in der Verbesserung der wirtschaftlichen Situation von Schuldnerinnen und Schuldnern zu suchen sein. Hier hat es zwar eindeutig eine positive Entwicklung gegeben. Gleichzeitig bleibt die Zahl der überschuldeten Privatpersonen aber auf einem hohen Niveau.

Ein Anreiz zu vermehrter Antragstellung muss deshalb an verschiedenen Stellen ansetzen.

Mangelnde oder schwer verständliche Informationen sollten durch ein verständliches und leicht zugängliches Informationsangebot ersetzt werden.

Mangelnde Verfahrensvereinfachung, fehlende Beratungshilfe und geringe Digitalisierung von Verfahren sollten durch gezielte Gegenmaßnahmen des Gesetzgebers verbessert werden.

Der Gesetzgeber sollte zudem der Tendenz zur (gesetzlichen) Aushöhlung der Restschuldbefreiung entschlossen entgegentreten und dabei die oftmals fiskalisch motivierten Ausnahmeregelungen auf den Prüfstand stellen.

 

 

Berlin, den 10.05.2024

Kontakt:

Verband Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands e.V. (VID)
Am Zirkus 3
10117 Berlin
Tel.: 030/ 20 45 55 25

E-Mail: info@vid.de / Web: www.vid.de

 

 

[1] https://www.creditreform.de/aktuelles-wissen/pressemeldungen-fachbeitraege/news-details/show/schuldneratlas-deutschland-2023.

[2] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/04/PD24_152_52411.html.

[3] Vgl. FN 3.

[4] https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Formular/Antrag_auf_Bewilligung_von_Beratungshilfe.pdf?__blob=publicationFile&v=7.

[5] https://www.regsol.be/RegCol/Home/Landing.

[6] Es zeichnet sich ab, dass die von der belgischen Justiz prognostizierte Zahl von insgesamt ca. 8.000 Anträgen pro Jahr nach 1.200 Anträgen bereits in der ersten Woche deutlich übertroffen wird. Vgl. zur Einführung auch die Pressemitteilung des belgischen Justizministers vom 6. November 2023 unter https://justitie.belgium.be/nl/nieuws/persberichten/justrestart_volledige_digitalisering_van_collectieve_schuldenregeling.

[7] Abl. L 172 v.26.6.2019, S.18ff.

[8] https://www.vid.de/stellungnahmen/stellungnahme-von-dr-christoph-niering-vorsitzender-des-verbandes-insolvenzverwalter-deutschlands-e-v-vid-im-rahmen-der-sachverstaendigenanhoerung-im-rechtsausschuss-des-deutschen-bundestages-am-2/.

[9] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Einkommen-Konsum-Lebensbedingungen/Vermoegen-Schulden/Tabellen/ueberschuldung.html

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