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Stellungnahme:
11.12.2023
Der vorliegende Gesetzentwurf (nachfolgend Entwurf) soll der effizienten Erledigung von Massenverfahren im Zivilprozess dienen und dem BGH die Möglichkeit einräumen, ein bei ihm anhängiges Verfahren als Leitentscheidungsverfahren zu bestimmen.
Der Entwurf sieht für die Umsetzung die Ergänzung und Änderung einzelner Regelungen in der ZPO vor und nimmt ausgewählte Rechtsgebiete vom Leitentscheidungsverfahren aus.
Indem der Anwendungsausschluss nicht ausdrücklich auf die Insolvenzgerichte erstreckt wird, besteht im Umkehrschluss eine Relevanz für laufende Insolvenzverfahren.
Ein Leitentscheidungsverfahren kann Insolvenzverfahren gleichermaßen betreffen, wie reine zivilrechtliche Streitigkeiten. In einem Insolvenzverfahren sind einerseits massenhaft gleichgelagerte Anfechtungsklagen keine Seltenheit. Im Rahmen von Insolvenzfällen mit hoher Beteiligung von Kapitalanlegern entstehen oft massenhaft gleichgelagerte Anfechtungsansprüche gegen die Anleger zugunsten der Masse.
Bestreitet andererseits der Insolvenzverwalter (oder ein Insolvenzgläubiger) im Sinne des § 179 Abs. 1 InsO eine Vielzahl gleichgelagerter Forderungen, können massenhafte Klagen auf Feststellung der Forderungen zur Insolvenztabelle erhoben werden.
Mit dem Entwurf wurden die Bedenken hinsichtlich des Anwendungsbereichs nicht ausgeräumt. Es bleibt weiterhin offen, wie weitreichend sog. „massenhafte Einzelklagen zur gerichtlichen Geltendmachung gleichgelagerter (Verbraucher-)Ansprüche“[1] verstanden werden können. In unserer Stellungnahme zum Referentenentwurf haben wir darauf aufmerksam gemacht, dass bei dieser Definition offenbleibt, ob nur Leistungsklagen oder auch Feststellungsklagen von einem Leitentscheidungsverfahren umfasst werden können.[2] Eine Klarstellung, inwieweit der Gesetzgeber massenhafte Feststellungsklagen als ebenfalls denkbar voraussetzt oder bewusst ausnehmen will, lässt erneut auch der vorliegende Entwurf vermissen.
Eine eindeutige Bestimmung des Anwendungsbereichs ist von höchster praktischer Relevanz. Umso mehr verwundert es, dass die unklare Formulierung trotz geäußerter Kritik unkommentiert in den Gesetzentwurf übernommen wurde. Dadurch bleibt weiterhin offen, ob ein
Leitentscheidungsverfahren ausschließlich bei Verbraucheransprüchen möglich sein soll.
Die Klärung dieser Fragestellung ist im Hinblick auf die Anwendbarkeit bei Insolvenzverfahren von wesentlicher Bedeutung. Die Einordnung eines Insolvenzverwalters als Verbraucher ist ungeklärt. Zudem wird nicht geklärt, wie der Begriff der „Geltendmachung“ auszulegen ist. Um eine Doppelung der Ausführungen zu vermeiden, verweisen wir insoweit auf unsere Stellungahme zum Referentenentwurf.[3]
Die offene Definition eines Massenverfahrens birgt ohne genaue Bestimmung des Anwendungsbereichs enorme Rechtssicherheitsdefizite.
Mit § 552b ZPO-E soll ein Leitentscheidungsverfahren eingeführt werden, um die Ressourcen der Instanzen künftig zu schonen und dadurch die allgemeine Verfahrensdauer zu beschleunigen. Dem BGH soll die Kompetenz zustehen, sich auch dann zu zentralen Rechtsfragen, deren Beantwortung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung sind, äußern zu können, wenn die Revision der Parteien beendet wurde.[4]
Der Entwurf nimmt im Vergleich zum Referentenentwurf lediglich eine Änderung der Frist zur Bestimmung eines Leitentscheidungsverfahrens vor. Die Eingrenzung der Bestimmungsfrist eines Leitentscheidungsverfahrens hilft nicht über die Unbestimmtheit des § 552b ZPO-E hinweg. Die Begründung des Entwurfs lässt eine konkrete Vorgabe vermissen, wann eine „Vielzahl anderer Verfahren“[5] vorliegt. Auf die Musterfeststellungsklage oder Abhilfeklage nach dem VDuG, die jeweils eine Mindestzahl an Verbraucheransprüchen voraussetzten, wird in dem Entwurf ebenfalls nicht Bezug genommen.
An der Ausgestaltung des Leitentscheidungsverfahrens als Ermessensentscheidung wird festgehalten, ohne dass die Begründung zumindest beispielhaft Auswahlkriterien für das Revisionsgericht nennt. In den Stellungnahmen zum Referentenentwurf wurde das eingeräumte Ermessen des BGH kritisiert. Insbesondere Prof. Dr. Nikolaj Fischer hat in seiner Stellungnahme deutlich ausgeführt, welche prozessualen Probleme diese Ermessensentscheidung birgt.[6]
Durch die fehlenden Mindestanforderungen bei der Bestimmung einer Leitentscheidung kann es bei den verschiedenen Zivilsenaten des BGH zu einer divergierenden Rechtsanwendung des § 552b ZPO-E kommen. Das verfolgte Ziel der Entlastung und Effizienzförderung der Instanzgerichte kann damit nicht erreicht werden. Vielmehr wird die Rechtsunsicherheit der Anspruchsinhaber erhöht.
Hat der BGH ein Leitentscheidungsverfahren bestimmt, soll durch den geänderten § 565 ZPO-E auch dann eine Entscheidung ergehen, wenn die Parteien das Revisionsverfahren beenden. Die Leitentscheidung soll – und kann – dabei keine formale Bindungswirkung und keine Auswirkung auf das zugrundliegende Revisionsverfahren entfalten.[7] Der Inhalt und die Form einer Leitentscheidung wurde in den Stellungnahmen zum Referentenentwurf vielfach kritisiert. Indem lediglich kosmetische Änderungen des Wortlauts vorgenommen wurden, konnten die Problemfelder nicht ausgeräumt werden.
An der Kompetenz des BGH zur hypothetischen Urteilsfindung wird festgehalten. Die Leitent-scheidung soll laut Entwurfsbegründung „den Instanzgerichten und der Öffentlichkeit als Richtschnur und Orientierung dafür, wie die Entscheidung der Rechtsfragen gelautet hätte“[8], dienen. Unklar bleibt weiterhin, welche Tragweite die Leitentscheidung als Richtschnur konkret haben soll. Der Entwurf erweckt den Anschein, dass eine mittelbare Bindungswirkung der Leitentscheidung geschaffen werden soll. Um der Zielrichtung – die Effizienzförderung und Entlastung der Instanzgerichte – gerecht zu werden, müssen die Instanzgerichte faktisch im Lichte der Leitentscheidung urteilen. Der Entwurf birgt weiterhin die Gefahr für die Parteien, in der ersten Instanz durch bereits vorgeprägte Urteile abgeurteilt zu werden. Hierdurch kann es zu einer Verkürzung des Instanzenzuges kommen. Mit der Ausgestaltung des Leitentscheidungsverfahrens sehen sich die Verfahrensbeteiligten der Beschränkung ihrer prozessualen Handlungsfähigkeit konfrontiert.
Es ist unverständlich, dass der eindeutige Verstoß gegen die Dispositionsmaxime auch im Gesetzentwurf ignoriert wird. Nicht nur in unserer Stellungnahme zum Referentenentwurf wurde dargestellt, dass die prozessuale Handlungsfreiheit – namentlich die Dispositionsmaxime – als Ausfluss der Privatautonomie Schutzgut des Art. 2 Abs. 1 GG ist. Prof. Dr. Fischer führt in seiner Stellungnahme ausführlich aus, dass „im Zivilprozess nur die Parteien die Befugnis haben, darüber zu disponieren, ob überhaupt ein Zivilgericht tätig wird.“[9] Das BVerfG hat klargestellt, dass auch die Wahrung der Privatautonomie Gegenstand einer grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates sein muss, da es die Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben betrifft.[10] Nach der aus Art. 2 Abs. 1 GG abzuleitenden Schutzpflicht müssen staatliche Stellen verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung umkehrt.[11] Durch die Schaffung einer mittelbaren Bindungswirkung durch eine Leitentscheidung droht den Verfahrensbeteiligten bereits in der ersten Instanz die freie Verfügung über den Verfahrensgegenstand faktisch entzogen zu werden.
Eine Rechtfertigung des grundrechtlichen Eingriffs lässt auch die Begründung des Gesetzentwurfs erneut vermissen. Eine gerechtfertigte Beschränkung der Dispositionsmaxime scheitert an den hohen Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Aufgrund der sprachlichen Unschärfe und Unbestimmtheit sind die neu gefassten ZPO-Vorschriften zur Zielerreichung nicht geeignet. Eine Entlastung der Instanzen kann erst mit der Entscheidung über die Bestimmung eines Leitentscheidungsverfahrens eintreten. Insofern obliegt es dem BGH aufgrund der vorgesehenen Ermessensentscheidung selbst, ob und inwieweit eine Entlastung erwartet werden kann.
In den vergangenen Jahren stand die Justiz mehrmals vor der Herausforderung, umfangreiche Klagewellen bearbeiten zu müssen. Dennoch ist die geäußerte Kritik[12] an der vorgelegten Konzeption eines Leitentscheidungsverfahrens berechtigt. Nach der Prüfung durch den Nationalen Normenkontrollrat wird deutlich, dass der unbestimmte Anwendungsbereich keine Rückschlüsse für die Ermittlung der voraussichtlichen Entlastung der Gerichte zulässt. Gemäß des dargestellten Erfüllungsaufwands wird von schätzungsweise 25 Leitentscheidungsverfahren jährlich ausgegangen. Dadurch seien ca. 2.000 Verfahren je Leitentscheidung erstinstanzlich abzuwenden.[13]
Die genannten Zahlen sind nicht nachvollziehbar. Die Aufstellung erweckt den Anschein, als seien keine empirischen Daten zugrunde gelegt worden. Vielmehr werden für Massenverfahren pauschal der Dieselskandal oder Klagen aufgrund unzulässiger Klauseln in Fitness-, Versicherungs- oder Bankenverträge als Beispiele benannt.[14] Eine empirische Darstellung, wie viele Leitentscheidungen während dieser Verfahrenswellen in der Vergangenheit hätten ausgesprochen werden können, bleibt die Entwurfsbegründung schuldig.
Der Entwurf strebt die Entlastung der Instanzgerichte durch eine Erweiterung des § 148 ZPO-E um einen Absatz 4 an. Den Gerichten soll ermöglicht werden, „mit Zustimmung der Parteien solche Verfahren auszusetzen, deren Entscheidung von Rechtsfragen abhängt, die den Gegenstand eines bei dem Revisionsgericht anhängigen Leitentscheidungsverfahrens bilden.“[15]
Die Aussetzungsproblematik im Rahmen von § 148 ZPO ist der Bundesregierung nicht unbekannt. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetz hatte sich der Bundesrat richtigerweise für eine Aussetzungsmöglichkeit seitens des Gerichts ausgesprochen. Nur dadurch ist eine Entlastung der Gerichte zu erreichen und eine einheitliche Rechtsprechung zu gewährleisten.[16] Aus Sicht der Bundesregierung handelte es sich dabei um eine unangemessene Beschränkung der Verfahrensführung, sodass sie sich dieser Ausgestaltung anschließen wollte. Dieser Meinungsstand wird in dem vorliegenden Entwurf anscheinend weiter vertreten, obwohl dies im Widerspruch zum verfolgten Zweck des Entwurfes steht. Aus prozesstaktischen Gründen kann eine Aussetzung durch die Parteien somit verhindert werden. Diese Abhängigkeit der gewünschten Entlastung der Gerichte von dem Parteiwillen erscheint als Korrektiv zur eingeschränkten Dispositionsmaxime ausgestaltet zu sein.
Indem die Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO unberührt bleiben soll[17], wird der gewünschte Ausgleich wiederum konterkariert. Die Aussetzung des Verfahrens unabhängig von dem Parteiwillen bleibt weiterhin möglich, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet. Die in einem Leitentscheidungsverfahren zu klärenden Rechtsfragen können gleichzeitig für das Bestehen und Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses entscheidend sein. In diesen Fällen wird den Gerichten die Möglichkeit eröffnet, über den Parteiwillen hinweg, die Aussetzung eines Verfahrens zu erreichen.
Der Entwurf klärt nicht die Frage, inwieweit eine nach § 565 ZPO-E zu treffende Leitentscheidung ein anhängiges Verfahren im Sinne des § 148 Abs. 1 ZPO sein kann. Der BGH darf erst dann über ein bei ihm anhängiges Verfahren eine Leitentscheidung treffen, wenn dieses ohne Urteil durch die Parteien beendet wurde.[18] Ab diesem Zeitpunkt ist der Streitgegenstand der Verfahrensbeteiligten nicht mehr anhängig. Inwieweit ein Leitentscheidungsverfahren die fehlende Anhängigkeit des zugrundeliegenden Verfahrens ersetzen kann, erschließt sich aus der Entwurfsbegründung nicht.
Obgleich ein Massenverfahren vorliegt, sind die Verfahrensbeteiligten weiterhin angehalten, bis in die Revisionsinstanz zu prozessieren. Die Instanzgerichte erfahren dadurch keine Entlastung. Dem BGH wird neben seiner Zuständigkeit als Revisionsgericht zusätzlich die Auswahl eines Leitentscheidungsverfahrens aufgebürdet.
Die Möglichkeit einer hypothetischen Urteilssetzung entgegen dem erklärten Parteiwillen stellt einen nicht gerechtfertigten Grundrechtseingriff dar. Der Entwurf ist nicht geeignet, die erforderliche Entlastung und Ressourcenschonung der Instanzgerichte herbeizuführen.
In insolvenzrechtlichen Massenverfahren bleibt seine Reichweite und Wirkung unklar. Dies sollte im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens unbedingt behoben werden, da ansonsten die angestrebte Effizienz bei der Erledigung von Massenverfahren nicht erreicht werden kann.
Berlin, 11.12.2023
Kontakt:
Verband Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands e.V. (VID)
Am Zirkus 3
10117 Berlin
Tel.: 030/ 20 45 55 25
E-Mail: info@vid.de / Web: www.vid.de
[1] Entwurfsbegründung, S. 8.
[2] Vgl. VID-Stellungnahme zum Referentenentwurf , S. 2 (abrufbar unter VID-StN-zum-RefE-Leitentscheidungsverfahren.pdf).
[3] A.a.O., S. 2.
[4] Entwurfsbegründung, S. 13.
[5] Vgl. § 552b ZPO-E.
[6] Vgl. Stellungnahme Prof. Dr. Fischer, S. 9 f. (abrufbar unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetzgebung/Stellungnahmen/2023/0731_Stellungnahme_Fischer_Leiteintscheidungsverfahren.pdf?__blob=publicationFile&v=3).
[7] Entwurfsbegründung, S. 8.
[8] Entwurfsbegründung, S. 8.
[9] Stellungnahme Prof. Dr. Fischer, S. 6., a.a.O.
[10] BVerfG, NJW 1994, 2749; BVerfG, NJW 1994, 36.
[11] Di Fabio in Dürig/Herzog/Scholz, GG, 99. EL Stand September 2022, Art. 2 GG, Rz. 101, 105.
[12] Vgl. Stellungnahmen von Prof. Dr. Fischer, S. 3 f.; Bitkom, S. 2; Deutsche Kreditwirtschaft, S. 4 (sämtlich abrufbar unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/2023_Leitentscheidungsverfahren.html?nn=110518).
[13] Vgl. Entwurfsbegründung, S. 10.
[14] Vgl. Entwurf, S. 1.
[15] Entwurfsbegründung, S. 13.
[16] BR-Drs. 145/23, S. 9.
[17] Entwurfsbegründung, S. 13.
[18] Vgl. § 565 ZPO-E.